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Brief von Karl August Varnhagen von Ense an Helmina von Chézy

Berlin, 25. Februar 1855
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 47 Chézy Helmina von, Bl. 743-744 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Empfänger/-in
Helmina von Chézy
Datierung
25. Februar 1855
Absendeort
Berlin
Empfangsort
Genf
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 135 mm; Höhe: 210 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Jadwiga Kita-Huber; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „743r“

743

[Karl August Varnhagen]An Helmina von Chézy.
25. Februar 1855.
Verehrteste Freundin!

Vorgestern empfing ich Ihren Brief, und heute schon steht
Ihr Sonett an den König
in der Spener’schen Zeitung
abge-
druckt. Ich hoffe, daß es eine rechtzeitige Erinnerung sein,
einen guten Eindruck nicht verfehlen wird; man muß unver-
droßen säen, immer wieder, hie und da, man weiß nicht wo
und wann ein Samenkorn aufgeht, von günstigem Sonnenstrahl
getroffen. Die Veränderung der letzten Zeile werden Sie ver-
zeihen, sie war nothwendig, um die Spöttereien, die sich an das
„Girren“ heften konnten, abzuschneiden. Ich gebe die Hoffnung
nicht auf, daß hier noch ein Erfolg erzielt werden könne, es ist
schon viel guter Wille geweckt, aber das Ergebniß hat niemand
in der Hand, ein guter Augenblick, ein günstiger Wetterstand
kann es plötzlich liefern. Warten, weiß ich wohl, ist eine halbe
Verzweiflung, und nun gar bei eilender Zeit! Aber was läßt
sich sich thun? Wir können die Mächtigen nicht zwingen! – 
Ich bin seit sechs Wochen an katarrhalischen Übeln so leidend,
daß ich theilweise das Bett und ganz und gar das Zimmer hüten
muß. Mein immer wiederkehrendes Erkranken hemmt mir
alle Thätigkeit, die nicht mit der Feder zu bestreiten ist, allen
Lebensverkehr mit Menschen, bei denen nur durch persönliche
Gegenwart etwas auszurichten ist, und nicht nur die Gelegen-
heiten fehlen mir, sondern sogar schon die Verbindungen. So
erfuhr’ ich dann auch nur auf Umwegen, daß Frau von Olfers
vom Empfang Ihres Briefes gesprochen und sich sehr freundlich für
Sie geäußert hat. Von Hrn Geh. Rath Kugler habe ich nichts
gehört. Von Hrn von Hülsen wenigstens keine Abgeneigtheit,
er würde einem Winke von oben bereitwillig Folge leisten. – 
Mich freut ungemein, daß Sie fortfahren Ihre Lebenserinne-
rungen
auszuarbeiten. Die gedruckten Bruchstücke
hab’ ich erst

Seite „743v“

vor kurzem mit antheilvollem Eifer wiedergelesen, und
mich der natürlichen und warmen Darstellung erfreut. Ob
der Herausgeber etwas verändert hat, weiß ich nicht, und kann
ich jetzt nicht erfragen, da ich ihn nie mehr sehe. Soviel ist aber
gewiß, daß Sie jetzt, bei vorgeschrittener Zeit und vielfach
veränderten Lebensverhältnissen freier berichten und schärfer
urtheilen können, als damals. Wie Sie in Ihrem Briefe über
Frau von Genlis sprechen, gereicht Ihrem edlen Sinne zur größten
Ehre; Sie haben Recht, daß Sie diese ausgezeichnete Frau nicht
ohne schonende Rücksicht behandeln wollen, und trotz erfahrener
Unbill nicht alles sagen was Sie sagen könnten;
nur die bösen
Auslassungen zurückzuweisen, sind Sie sich selber schuldig. Das
Gute wie das Schlechte, was in Frau von Genlis durcheinander
gekantet war, giebt sich übrigens in Ihren Memoiren
unwider-
sprechlich kund, sogar die Leidenschaftlichkeit, die in ihren
Verhältnissen zu Frauen waltete. Ihren Titel „Unvergeß-
nes aus meinem Leben“
finde ich sehr gut gewählt, und
ziehe ihn dem andern vor. – 
Sie sagen, ich soll meine Denkwürdigkeiten schreiben, ich
soll insbesondre das Schwarzenbergische Flammenfest in einem
an Sie gerichteten Briefe schildern? Beste Freundin, von
meinen Denkwürdigkeiten sind drei, vier Bände längst
gedruckt, sogar in zweiter Auflage,
das Schwarzenbergische
Fest bereits vor 25 Jahren in Raumer’s Taschenbuch
, dann
wieder in beiden Auflagen des Ganzen, in’s Englische übersetzt,
in’s Französische! So geht’s mit deutscher Litteratur, das Drucken-
lassen ist oft nur ein Beisetzen in anständiger Gruft! – Das
in Zeitschriften und Taschenbüchern Niedergelegte sollte fleißi-
ger gesammelt werden, da geht am meisten verloren. – 
Bettina von Arnim ist noch immer nicht wieder hier; sie
soll sogar noch längere Zeit in Bonn bleiben. Ich habe unter-
dessen namenlose Plackerei mit dem Druck von Arnim’s Ge-
dichten
. Schade, daß Sie das an Sie gerichtete nicht mehr haben,
mehr als das Ihnen Zugeschickte kann ich aus der unleserlichen,
vieldurchbesserten Handschrift leider nicht herstellen. Ihr
Ausdruck: „Auf Händen getragen und mit Füßen getreten“

Seite „744r“

743

findet nicht nur auf das eine Verhältniß Anwendung, son-
dern auf beinah allen Umgang, den die wunderbare Frau gehabt.
Das Ihnen entzogene Gedicht müssen Sie natürlich als Ihr Eigen-
thum feststellen und zurücknehmen, der armen Günderrode

geschieht auch nur ihr Recht dadurch. Wie mag nur Bettina zu
dem Irrthum gekommen sein?
 – 
Ich finde nicht gleich die Stelle, wo Chamisso von Ihnen spricht
und Ihre Eigenschaft als Dichterin in Zweifel ziehen soll! Man
müßte das Original seines Briefes nachsehen, um sich zu über-
zeugen, daß er wirklich dies geschrieben. Steht es in der That wört-
lich so da, so hat er sich selber gelogen, denn von Ihrer dichteri-
schen Begabung war er innigst überzeugt, und hat mir öfters
diese Überzeugung mit begeistertem Eifer ausgesprochen, in
Paris und in Berlin; auch kann sein Sinn hierin sich nicht ver-
ändert haben. Aber bei Herausgabe seines Nachlasses ist es nicht
immer sorgfältig hergegangen, und Hitzig, der so stolz war auf
strenge Gewissenhaftigkeit, erlaubte sich große Willkür.
 – 
Wo Richard Spazier jetzt sein mag, kann ich nicht erfahren;
man sagte er sei nach Rußland gegangen, doch ist dies wohl eine
Verwechslung mit einem Namensvetter. An das Tieck’sche
Verhältniß zu ihm kann ich wohl glauben, und habe sogar be-
sondre Gründe dafür. – Tieck’s Briefwechsel soll von seiner
Tochter Agnes, verheirathete Alberti in Schlesien, herausgege-
ben werden, allein sie macht große Forderungen, und die Zeit
Tieck’s ist längst vorüber!
Dazu die bedenklichen Zustände der
politischen Welt, die drohenden Ungewitter des Krieges, kein
Buchhändler wagt neue Unternehmungen. Indeß kann sich das
bald ändern; es ist allerdings Möglichkeit und sogar Aussicht
zum Frieden; daß hinter dem dann wieder neuer Krieg lauert,
schadet nicht, er kann alsdann wenigstens verständiger eingelei-
tet werden, und die Menschen athmen unterdessen auf! – 
Ich freue mich sehr, daß ich einige Autographen von Ihnen
bekommen soll! Im Alter überwiegt Sammlerlust. Hätte ich
sie nur früher gehabt, in Paris, Wien, Frankfurt am Main!
Welche Schätze hätte ich zusammenbringen können! – 
Sie erwähnen Heine’s, George Sand’s. Der erstere hat auf
seinem Krankenlager ein Heldenthum von Geisteskraft aufgezeigt.

Seite „744v“

Letztere giebt uns in dem anmuthigen Geplauder ihrer
Histoire de ma vie
die frischesten Lebensbilder vergangner
Zeit; Sie müssen das lesen; es wird Sie ergötzen, und ermun-
tern zum eignen Diktiren. – Eine Anthologie aus Rahels Brie-
fen
ist schon mehrmals gegeben worden, auch aus Bettina’s Schrif-
ten
. Doch fände ein neuer, umfassender Versuch dieser Art ge-
wiß guten Raum. – 
Leben Sie wohl! Ich muß aufhören, die Nerven fordern
Erholung. Mit besten Wünschen in treuer Gesinnung
Ihr ergebenster Varnhagen von Ense.
Berlin, den 25. Februar
1855.