Fanny Tarnow
Fanny Tarnow wird als erstes Kind des Juristen und Stadtsekretärs (Johann) David Tarnow (1756–1780) und dessen Frau Amalie Justine geb. von Holstein (1745?–1815) in Güstrow geboren. Obwohl sie mit vier Geschwistern aufwächst, von denen sie mit der um sieben Jahre jüngeren Schwester Betty (verh. Kaufmann) am engsten verbunden ist, führt sie als Kind ein einsames Leben, denn infolge eines Unfalls kann sie sich kaum bewegen und muss wieder gehen lernen. Diese aufgezwungene Isolation lässt sie das Interesse fürs Lesen entdecken, wodurch die Krankheit und mangelnde Kontakte zu den Altersgenossen leichter zu ertragen sind. Ihre durch körperliche Schwäche gekennzeichneten Kindheitsjahre, die sie teils in ihrem Elternhaus und teils in dem der Tante Wilhelmine von le Fort (1771–1841) verbringt, gehen mit der Verarmung ihrer Familie plötzlich zu Ende. So muss sie angesichts der finanziellen Schwierigkeiten des Vaters selbständig werden und findet Anstellung als Erzieherin in der Familie des Landrats von Oerzen auf Roggow in Mecklenburg. Ab 1805 erscheinen in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, zunächst in lokalen wie „Die Monatsschrift von und für Mecklenburg“, dann in überregionalen (z.B. in „Journal für deutsche Frauen“), ihre ersten Aufsätze und literarischen Texte. Eine Förderin ihres Talents findet Fanny in ihrer Mutter, die sie zum Schreiben ermuntert und die gegen den Willen der Tochter die Debüterzählung „Alwine von Rosen“ (1805/1806) an den Verleger Friedrich Rochlitz schickt. Dem erfolgreichen, obwohl anonym erschienenen Prosawerk folgen dann weitere, die schon unter Fannys Namen gedruckt werden: „Ottilie“ (1807), „Natalie. Ein Beitrag zur Geschichte des weiblichen Herzens“ (1811) und „Thekla“ (1812). Nach dem Tod der Mutter (1815), um die sie sich in ihren letzten Lebensjahren gekümmert hat, verlässt sie ihre Heimat und entscheidet sich, nach Petersburg zu ihrer Freundin Charlotte Henschel zu ziehen. Die in Russland verbrachte Zeit 1816–1818 ermöglicht Fanny Tarnow die ihr bis dahin unbekannte Erfahrung einer fremden Kultur, die sie dann in ihren Reiseaufzeichnungen „Korrespondenz-Nachrichten aus Petersburg“ (1817) und „Briefe auf einer Reise nach Petersburg an Freunde geschrieben“ (1819) zum Ausdruck bringt. In Petersburg knüpft sie Kontakte mit Friedrich Maximilian Klinger, August von Kotzebue und dem deutsch-baltischen Diplomaten Jacob Johann Sievers an.
Nach der Rückkehr aus Russland erweitert sie ihre geselligen Kontakte: In Berlin lernt sie unter anderem E.T.A. Hoffmann kennen und vertieft ihre Bekanntschaft mit Friedrich de la Motte Fouqué, Julius Eduard Hitzig, Rosa Maria Assing, Rahel Levin Varnhagen und ihrem Mann Karl August. Als Erzieherin der Ziehtochter Julius Hitzigs wechselt sie den Wohnort nach Lübeck, später zieht sie nach Hamburg um, wo sie in den Jahren 1818 bis 1819 gemeinsam mit der Schriftstellerin Amalie Schoppe eine Erziehungsanstalt für Mädchen leitet. Auch diese Lebensstation erweist sich wegen eines Streits zwischen den beiden Frauen als vorübergehend und zwingt Fanny Tarnow zu einer weiteren Übersiedlung, diesmal nach Dresden und kurz darauf nach Schandau (1820–1829). Die neu geschlossene Freundschaft mit Helmina von Chézy, die durch mehrere Briefe dokumentiert ist, zerbricht ebenfalls. In der hauptsächlich in Weimar wirkenden Julie Gräfin von Egloffstein, die auch mit Charlotte von Ahlefeld und Amalie von Voigt befreundet war, sowie in Elisa von der Recke, Ludwig Tieck und Christoph August Tiedge findet sie aber Unterstützung, besonders als sie ihre Sehkraft verliert. Von ihren Freunden wird dann eine Auswahlausgabe ihrer Werke auf Subskriptionsbasis („Auswahl aus Fanny Tarnow’s Schriften“, 1830) herausgegeben. Die Initiative befreit Fanny von „schweren Erdensorgen“ (Fanny Tarnow: An meine Freunde. Dresden 1829; SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 142) und gewährt ihr eine finanzielle Unterstützung, die sie zusätzlich auch von ihrer Schwester Betty bekommt, zu der sie nach Weißenfels zieht (1829). Die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens verbringt sie in Dessau.
Fanny Tarnows Werk umfasst hauptsächlich Prosatexte: Erzählungen, Skizzen und Romane, die für Zeitschriften („Journal für deutsche Frauen“, „Morgenblatt für gebildete Stände“. „Zeitung für elegante Welt“ u.a.) verfasst wurden. Nach der Leipziger Gesamtausgabe ihrer Werke (1830) veröffentlicht sie nur noch gelegentlich historische Romane und Erzählungen (z.B. „Kaiserin und Sklavin. Ein historischer Roman aus dem 3. Jahrhundert der christlichen Kirche“, 1840). Aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen erfindet Fanny Tarnow Heldinnen, die Zuflucht in Krankheit suchen und ein eigenes, gesellschaftsfremdes Leben führen. Auf diese Weise versuchen sie, ihre inneren und äußeren Beschränkungen zu überwinden. Die von weiblichen Figuren angestrebte Integration in die bürgerliche Gesellschaft scheitert in den meisten ihrer Werke an der patriarchalen Rollenverteilung („Natalie“, „Blätter aus Theresens Tagebuch“) oder an der bürgerlichen Moral, so erweist sich der Glaube als ein „Heilmittel“ – so Birgit Wägenbaur – und eine Alternative für eine nach Selbstverwirklichung strebende Frau („Paulinens Jugendjahre“).
Fanny Tarnows ständiger Wohnortwechsel, ihre Berufstätigkeit als Erzieherin und die daraus resultierende Mobilität tragen zur Entstehung ihres eigenen Netzwerkes von Korrespondent:innen bei, zu welchem viele Personen, die das damalige Kulturleben prägten, gehören, u.a. Rahel und Karl August Varnhagen oder Helmina von Chézy. Tarnows Briefnachlass in der Jagiellonen Bibliothek, der 62 Briefe umfasst, erlaubt es nicht nur eine interessante, von Brief zu Brief sich fortentwickelnde Denkweise der Autorin vor dem Hintergrund kulturhistorischer Wandlungen zu rekonstruieren und sie selbst als deren Seismograph wahrzunehmen, sondern auch ihre zahlreichen Briefpartner von vielen Seiten kennenzulernen. Die Dynamik der inneren Prozesse des schreibenden Ichs macht diese Korrespondenzen besonders wertvoll, zumal sie Fanny Tarnows Entfaltung von ihren Jugendjahren bis zum letzten Lebensjahr widerspiegeln.
Literatur
Amely Bölte:
Fanny Tarnow. Ein Lebensbild. Berlin 1865.
Ariane Neuhaus-Koch:
„Bettine von Arnim im Dialog mit Rahel Varnhagen, Amalie von Helvig, Fanny Tarnow und Fanny Lewald“. In: Dies. (Hrsg.): „Stets wird die Wahrheit hadern mit dem Schönen“. Festschrift für Manfred Winfuhr zum 60. Geburtstag.
Köln und Wien 1990, S. 103–118.
Reinhard Rösler:
„Weibliche Identität und weibliches Selbstbewußtsein in Texten der populären Literatur des frühen 19. Jahrhunderts am Beispiel Fanny Tarnow.“ In: Aus dem Schatten treten. Hrsg. von Kurt Erich Schöndorf.
Frankfurt am Main u. a. 2000, S. 127–141.
Adolf Thimme:
„Fanny Tarnow. Eine Skizze ihres Lebens nach neu erschlossenen Quellen“. In: Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 91 (1927), S. 257–278.