DE | EN

Geschichte

Entstehungsgeschichte

Grundlage und Kernstück der Sammlung Varnhagen war der handschriftliche Nachlass Karl August Varnhagens von Ense und die umfangreiche Korrespondenz seiner Frau Rahel, die zwischen 1790 und 1806 sowie zwischen 1820 und 1833 einen literarischen Salon in Berlin führte. Der Salon war ein Treffpunkt der damaligen geistigen Elite Deutschlands; zu den prominentesten Gästen gehörten Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Friedrich Schleiermacher, Friedrich de la Motte Fouqué, Fürst Hermann von Pückler-Muskau, Wilhelm und Jakob Grimm, Jean Paul Richter, Wilhelm und Alexander von Humboldt und viele andere. Die Sammlung enthält über 6.000 Briefe von Rahel, die an 300 Korrespondent*innen gerichtet sind und bereits in mehreren prominenten Editionen vorliegen.

Karl August Varnhagen sammelte von klein auf und über 50 Jahre seines Lebens mit unbändigem Eifer verschiedenste historische und biographische Materialien. Dank seiner Tätigkeit als Journalist, Schriftsteller und Diplomat konnte er zahlreiche Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens in Europa persönlich kennenlernen und seine Kontakte auf fast den gesamten Kontinent ausdehnen. Autographen wurden von ihm gekauft, im Tausch erstanden oder an ihn verschenkt. In der Sammlung, die ihr Entstehen als eine sozio-kulturelle Praxis selbst dokumentiert, finden sich zahlreiche Briefe, in denen sich Varnhagen direkt an Personen wendet, an deren Nachlässen oder Autographen er Interesse hatte. Ein Beispiel dafür ist der bisher unveröffentlichte Briefwechsel zwischen Karl August Varnhagen von Ense und Helmina von Chézy, der veranschaulicht, dass der Sammler sowohl an ganzen Nachlässen als auch an ganz bestimmten Manuskripten, wie zum Beispiel bestimmten Gedichten, interessiert war.

Ein Brief Varnhagens aus dem Jahr 1848 an den Oberbibliothekar und Rat der Königlichen Bibliothek in Dresden, Karl Falkenstein, macht deutlich, wie er seine Sammlung selbst betrachtete. Der Brief wurde später im Aufsatz „Ueber Zweck und Werth der Autographensammlungen“ (1859) veröffentlicht:

Auch mir wurde die Lust zum Sammeln von Handschriften erst in späten Jahren und durch Zufall erweckt, nachdem ich bis dahin gleichgültig alles weggegeben, was sich bei mir eingefunden hatte, und an den reichsten Quellen, die mir lange Zeit offen gestanden, achtlos vorübergegangen war.

Uebrigens denk’ ich von unserm Sammeln sehr ehrenwerth und ernst; mir ist es keine bloße Liebhaberei, sondern eine literarische Angelegenheit, welche künftigen Zeiten sehr wichtig sein wird. Dem Blatte gesellen sich leicht ganze Reihen von Briefen, Aufsätze aller Art, geschichtliche Zeugnisse, die mannigfachsten Angaben und Erläuterungen, und es entsteht allmählich ein historisch-literarisches Lexikon, wie es sich mancher Schriftsteller jetzt zur Hand wünschen möchte, der einen Stoff aus früherer Zeit behandelt. Ich habe daher auch die Fürsorge getroffen, dass meine Sammlung nach meinem Tode bewahrt bleibt und einer öffentlichen Bibliothek zum allgemeinen Gebrauch überliefert wird.

Nach Varnhagens Tod wurde die Sammlung von seiner Nichte und Universalerbin Ludmilla Assing (1821–1880) übernommen, die seit 1842 mit ihm in Berlin lebte und auch versuchte, die Tradition des literarischen Salons der verstorbenen Rahel fortzusetzen. Ludmilla bereicherte die Sammlung um die Dokumente ihrer Eltern, Rosa Maria und David Assing, und ihren eigenen Nachlass. Dank ihrer eigenen Bemühungen nahm sie in den frühen 1870er Jahren u. a. die Autographen des Schriftstellers und Diplomaten Apollonius von Maltitz und des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau in die Sammlung auf; außerdem fertigte sie zahlreiche Abschriften an, die einen ebenso wertvollen Teil der Sammlung ausmachen. Aufgrund ihrer redaktionellen Tätigkeit, zu der auch die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Karl August Varnhagen von Ense und Alexander von Humboldt gehörte, der sich kritisch mit der damaligen Situation in Preußen auseinandersetzte, wurde Ludmilla Assing strafrechtlich verfolgt. Um der Gefahr einer Verhaftung zu entgehen, reiste sie 1862 über die Schweiz nach Italien (Florenz) aus. Dabei konnte sie nur einen Teil der Sammlung mitnehmen. Der in Berlin verbliebene Teil wurde ihr erst später auf konspirativem Wege, u. a. mit der Unterstützung Emma Herweghs, über die Schweiz zugestellt. In Florenz wohnte Ludmilla Assing bis zu ihrem Tod. Testamentarisch vermachte sie die Sammlung der Königlichen Bibliothek zu Berlin und in Erfüllung des Willens ihres Onkels machte sie es zur Bedingung, dass die „oben genannten Gegenstände der allgemeinen Benutzung möglichst überlassen werden“ und „vereinigt blieben“. Nach Assings Tod wurde die Sammlung im Frühjahr 1881 unter Aufsicht ihres Testamentsvollstreckers Salvatore Battaglia in die Königliche Bibliothek in Berlin überführt. In ihrer endgültigen Form stellte diese Kollektion somit ein wahres „Museum der Handschriften“ (Stern) dar.

Ludwig Stern (1846–1911), der Autor des einzigen bisher gedruckten Katalogs der Sammlung Varnhagen, beschreibt in seinem Vorwort den Charakter und die Ordnung, in der die Sammlung von Florenz nach Berlin kam, während er auf ihre außergewöhnliche Komplexität und Vielfalt hinweist. Laut Stern weigerte sich Varnhagen, seine Sammlung mit anderen zeitgenössischen Sammlungen zu vergleichen: „Meine Sammlung ist eine andere [...], sie ist vor allem die meine, nach meinen Verhältnissen, Absichten und Gelegenheiten“ (15.09.1851). Zu den individuellen Merkmalen der Sammlung Varnhagen, die die Persönlichkeit des Sammlers zum Ausdruck bringen, gehören laut Stern die handschriftlichen biografischen Notizen (verfasst in der Regel auf separaten Blättern), Abbildungen und Drucke. Eine weitere Besonderheit ist die Heterogenität der Bestände und das Vorhandensein von Dokumenten unterschiedlicher Qualität, d. h. der Mischcharakter der Sammlung; neben Handschriften bedeutender Vertreter*innen der europäischen Kultur und Wissenschaft finden sich auch Dokumente weniger bekannter Persönlichkeiten, die allerdings von großem Erkenntniswert sind. Die Sammlung vermittelt somit ein möglichst vollständiges und vielfältiges Bild ihrer Zeit (Ludwig Stern).

Geschichte der Sammlung Varnhagen

(vom Zweiten Weltkrieg bis heute)

Die Sammlung Varnhagen gelangte nach Krakau infolge der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Ab 1941 wurden die wertvollsten Bestände der Preußischen Staatsbibliothek wegen der Bedrohung Berlins durch Bombardierungen nach und nach aus der deutschen Hauptstadt abgezogen. Insgesamt wurden 3 Millionen Drucke und 900.000 Einheiten aus den Spezialsammlungen für die Evakuierung ausgewählt. Diese Sammlungen wurden an verschiedenen Orten in den südlichen und östlichen Gebieten des Dritten Reiches untergebracht. Einige von ihnen (darunter die Sammlung Varnhagen) kamen nach Fürstenstein (heute Książ) in Niederschlesien, von wo aus sie an einen potenziell sichereren Ort – Grüssau (heute Krzeszów bei Kamienna Góra) – gebracht wurden. In dem dortigen Benediktinerkloster, heute ein Zisterzienserkloster, wurden 505 Truhen mit dem so genannten ‚preußischen Schatz‘ deponiert.

Nach dem Ende des Krieges wurde die Region Niederschlesien infolge der Friedensvereinbarungen Teil des wiedergeborenen polnischen Staates. Die polnischen Behörden richteten das Amt des Delegierten des Bildungsministeriums für die Sicherung zurückgelassener Bücherbestände ein, das von Dr. Stanisław Sierotwiński, einem polnischen Literaturhistoriker und Mitarbeiter der Jagiellonen Bibliothek, ausgeübt wurde und seinen Sitz in der Jagiellonen Bibliothek in Krakau hatte. Als Sierotwiński 1945 in Niederschlesien nach Sammlungen aus den Bibliotheken von Krakau, Warschau und Lemberg suchte, stieß er in Krzeszów auf die Berliner Bestände. Ab 1946 wurden auf der Grundlage des Erlasses vom 8. März 1946 über das so genannte ehemalige deutsche Eigentum die Berliner Bestände systematisch nach Krakau transportiert.

Anfang der 1950er Jahre wurde die Delegatur aufgelöst und die Berliner Bestände, umgangssprachlich „Berlinka“ genannt, der Jagiellonen Bibliothek übergeben. Bis Ende der 1970er Jahre verschwiegen die Behörden des polnischen Staates die Existenz dieser Bestände auf dem Gebiet Polens, so dass sie jahrelang aus dem wissenschaftlichen Verkehr gezogen wurden. Seit 1979 wurden sie Wissenschaftler*innen mit einer besonderen, individuell eingeholten ministeriellen Genehmigung zur Verfügung gestellt. Im Juli 1981 wurden die Berliner Bestände auf Beschluss der Behörden der Jagiellonen-Universität allen interessierten Wissenschaftlern gemäß den allgemeinen Regeln für den Zugang zu Sondersammlungen zugänglich gemacht.

Die Jagiellonen Bibliothek bewahrt, konserviert und erschließt die Sammlungen der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin und unterstützt deren Erforschung in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht.