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Brief von Fanny Tarnow an Karl August Varnhagen von Ense

Leipzig, 26. Oktober 1837
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 90-92 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
26. Oktober 1837
Absendeort
Leipzig
Empfangsort
Umfang
3 Blätter
Abmessungen
Breite: 130 mm; Höhe: 205 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

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[Karl August Varnhagen] Fanny Tarnow.
Leipzig d 26sten 8br 37.
Die Hofnung Sie, meinen hochverehrter Freund,
im Laufe des vergangenen Sommers zu sehen, hat
mich getäuscht u leider habe ich von Freund Kühne
erfahren, daß Sie in Hamburg unwohl u leidend
waren. Die dortige Luft thut wenig Menschen
wohl. Man muß sehr gesund seӱn um es in
Hamburg zu bleiben – an gesund werden, ist
aber dort nicht zu denken. – Man kann es sich fast
nicht denken, daß ein Mann, der der Mittelpunkt
eines Kreises geworden ist, der mir im jetzigen
Deutschland als der bedeutendste erscheint – ein
Mann, von dem so viele lichte Strahlen ausgehen
u der sich seine Jünger so herangebildet hat,
mit dem Druck körperlicher Leiden zu kämpfen
hat. – Mir ist immer, als müsse das noch einmal
alles wieder von Ihnen abfallen u die herrliche
geistige Kraft jede irdische Hemmung besiegen.
Ich bin mit meinem Aufenthalt in Freienwalde

sehr zufrieden. Herrliche Wiesen, schönes Laubholz,
darunter viele hundertjährige Linden, deren
Blühten die ganze Atmosphäre zu einem
nervenerquickenden Duftbad machen – eine
stärkende Heilquelle u dazu die Einsam-

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keit, der ich bedurfte. – Vielleicht haben Sie gehört,
daß mich der gewaltsame Tod eines von mir innig
geliebten u seit Jahren mütterlich gepflegten
Neffen
, im Lauf des vorherigen Frühlings sehr erschüttert
hatte. In meinem Alter brechen bei einem solchem
Ereigniß viele kaum vernarbte Wunden
wieder auf u man wundert sich, noch so viel rothes
warmes Herzblut verströmen zu können; allein
ich habe in diesem Schmerz auch erfahren, was
mir das Leben gegeben hat u in welcher Art
es mich reicher gemacht hat. – Ich habe den Schmerz
besiegt, statt mich von ihm besiegen zu lassen.
Nun lebe ich in meinem kleinen Weissenfels wieder
mein stilles, süß friedliches Leben u seh dem deutschen
u europäischen Treiben von Ferne zu, lebe aber nur
mit den Edelsten u Besten aller Zeiten im ver-
trautem Umgang. – Seit 14 Tagen bin ich hier bei
meiner Freundin Harkort u habe in dieser Zeit
viel Schönes gesehen u empfunden, auch einige inter-
ressante Menschen kennen gelernt. Zu diesen
rechne ich Guzkow, der jetzt bei Ihnen in Berlin ist.
Wie ganz anders habe ich den Mann gefunden, als
ich ihn mir gedacht habe. Er ist, oder ich sollte
vielleicht sagen, er kann u will liebens-
würdig seӱn, u das war gegen meine Erwartung;
ich habe mir aber den angenehmen Eindruck,
den seine Persönlichkeit auf mich gemacht
hat, sehr gerne zu Gute kommen lassen. – Wun-

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derlich ist es aber doch, wie schnell die Ehe die
beiden Vorturner des jungen dDeutschlands, Guzkow
u Laube zahm gemacht hat!
– Ach, Beiden ist
jetzt so um ein ruhiges Nest für Frau u Kind,
u zum Wohlseӱn bei Speise und Trank zu thun!
Wahrhaftig man sollte die Demagogen
verheirathen, statt sie auf die Festung zu
schicken ¬– diese kann wohl den Ausbruch einer
Krankheit hemmen, aber die Krankheit
selbst wird schlimmer dadurch; die Ehe scheint
aber radical zu helfen, sie macht, wenn
nicht gesund, doch mürbe – u nur kräftige
Naturen sind gewissen Krankheiten unter-
worfen.
Ach, lieber V. ich schäme mich, Ihnen von meinen unbedeu-
tenden Thun u Treiben vorreden zu swollen u doch
möchte ich so gerne zu der Fülle von Früchten u HaBlumen
die Ihnen dargebracht werden, ein Grashälmchen,
ein ganz kleines unscheinbares Feldblümchen legen.
Das Bewußtseӱn, daß Sie Niemand aufrichtiger verehren
… kann als ich u daß ich wahren, herzlichen u treuen
Antheil an Allem nehme, was Sie betrifft, giebt
mir Muth an Ihre wohlwollende freundliche Gesin-
nug gegen mich zu glauben. Mir ist immer als hätte
ich in Ihrer mir unvergeßlichen Rahel eine Fürspre-
cherin bei Ihnen. – Ich las in diesen Tagen in
der eleganten Zeitung
zwei kleine Anzeigen
von Ihnen, die mir bewiesen, daß Ihnen, wie es ganz
natürlich ist u sich von selbst versteht, von

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meinen Uebersetzungen u Bearbeitungen nichts
zu Gesichte kommt. Die eine dieser Anzeigen
betraff die Lettres d'un voyageur
, von denen
ich, eben in der eleganten, einen Monat vorher,
mehrere unter dem Titel „Selbstgeständnisse
v. Aurore Düdevant
, uebersetzt hatte, weil
ich fand, Mundt
habe der hochbegabten Frau
nicht hinlängliche Gerechtigkeit widerfahren
lassen. Meine Uebersetzung der Indiana

hat die Sand zuerst in einen deutschen Lese-
kreis eingeführt, in dem es früher verpönt
war, auch nur ihren Namen zu nennen. – In
wenig Wochen erscheint nun von mir eine
Uebersetzung des Mauprat
in der dieser
gewältige Genius sich eine neue Bahn gebro-
chen hat. – Ihre zweite Anzeige betraff
einen vor länger als 20 Jahren erschienenen
Roman von Sophie Gaӱ, der auch vor 20 Jahren
schon ein- zweimal uebersetzt worden
ist: Léonie de Montbreuse
– die späteren
bedeutenderen Werke der Madame Gaӱ:
ihre Herzogin v. Chateauroux
u die
Septimania, Gräfin von Egmont
, habe
ich in diesen letzten zwei Jahren, gleich nach
ihrer Erscheinung uebersetzt u so auch den sehr
geistreichen Roman ihrer Tochter Delphine;
Le Marquis de Portanges
. – Alle diese

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Sachen sind mir aber immer viel zu unbe-
deutend vorgekommen, als daß ich es je
hätte wagen mögen, ihrer gegen Sie zu
erwähnen u mir zu erlauben, sie Ihnen zuzu-
senden. Für die beikommenden Memoiren

wage ich es aber einen Blick zu erbitten –
Sie werden im Durchblättern gewiß auf
hie u da auf etwas treffen, was Sie inter-
ressiren wird. Ich darf das sagen, da ich
dieals Uebersetzerin ja nicht den geringsten
Anspruch darauf machen kann, das Interresse
mit derihrer Verfasserin zu theilen. – Sie sind
ein leichtes anmuthiges Geplauder aus einer
Zeit, deren Schatten nicht in die unsrige fallen;
diemit Vder Verfasserin ist aber die letzte
Aristokratin ihrer Art zu Grabe gegan-
gen, wie mit dem König Friedrich
August von Sachsen
, der letzte Zopf.

Alles was Sie zu erquicken u zu
trösten u zu kräftigen vermag, erfleht
für Sie, mein edler Freund, das Gebet
Ihrer Ihnen von ganzer Seele ergebenen
Freundin.

Fannӱ.

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