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Brief von Helmina von Chézy an Karl August Varnhagen von Ense

Genf, 10. Januar 1854
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 47 Chézy Helmina von, Bl. 282-283 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Helmina von Chézy
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
10. Januar 1854
Absendeort
Genf
Empfangsort
Berlin
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 210 mm; Höhe: 270 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Jadwiga Kita-Huber; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „282r“

282

[Karl August Varnhagen]
Helmina von Chézy.
(Grabschrift auf ihren Sohn.
Verse an sie von Chamißo.)
Genf, den 10. Januar 1854.
Genf, den 10. Januar 1854.

Mein herzlich verehrter Freund!

Noch kann ich Gegenstände unterscheiden und bei hellem
Sonnenlicht auch noch Farben, aber schreiben kann ich nicht mehr,
meinen Namen nur schlecht und mit der größten Mühe. Von
Ihrem geistvollen Briefe
kann ich nur das Gemüthliche und An-
muthvolle zum Theil beantworten. Auf alles Uebrige muß
ich entsagen, denn ich werde von allen Seiten her gemartert
und habe keine vergnügte Stunde. Ein langdauerndes Unglück
macht stumpf. Als mein Max noch lebte, war mir das ganze
Leben noch recht. Erinnern Sie sich noch, wie der liebe Junge
Schach spielte? Wir sprachen oft von Ihnen; er hatte Gemüth
und Sitte; der älteste, der jetzt in Wien mit seiner Frau und
seiner Tochter lebt, hat kein Verlangen getragen, einen solchen
Lobspruch zu verdienen; denn an Mitteln hinzu fehlte es
ihm nicht. Ich habe mich gänzlich von ihm los lossagen müssen. Mit
welchem Schmerz, können Sie ahnen, aber nur eine Mutter kann
ihn verstehen. 1835 als ich in Baden-Baden war und jedes ersinnliche
Mittel aufbot, um den Bethörten von seiner unsinnigen Heirath
zu bewahren, die er jetzt selbst wünscht, nicht geschlossen zu haben,
da ging ich in dunkler Nacht durch jedes Wetter die steile holperige
Straße vor dem Pavillon der Großherzogin Stephanie, bittere
Thränen vergießend, vorüber, und labte mich an dem Scheine
der Lichter vor seinen Fenstern. Er hat mir nachher, nach München
zu mir kommend, große Unbilden zugefügt und mit Füßen getretene
Mutterliebe widerstand allen, bis er die Ruchlosigkeit auf das
höchste trieb. Jetzt bemühe ich mich, nach allen Seiten hin, um
ein sicheres Brod für den Unglücklichen. Es ist mir noch nicht ge-
lungen, ihm eins zu verschaffen. Hier schreibe ich Ihnen die Grabschrift

Seite „282v“

nieder, die auf sein Obelisk kommen solle.
Mein einzig Kind, du ließest mich allein
Auf meinen letzten Pilgerwegen
Geist, Anmuth, Kunst & Liebe waren Dein
Bringst Schönres doch dem Himel nichts entgegen
Als deiner Mutter Leid & Herzenssegen
Es hat mich tief gerührt, daß Sie meinetwegen Ihre Feder in Beweg-
ung gesetzt haben, ich bin stolz darauf. Bei diesem Anlaß
ist mir Hitzig beigefallen. Er hat eine große Unbesonnen-
heit in Ansehnug meiner begangen. Sie werden sich erinnern,
daß ich sehr anspruchslos bin. Als ich in Chamisos Briefen von Hitzig
herausgegeben die Stelle las,
die unser Adelbert in einer Anwand-
lung von übler Laune und ohne zu ahnen, daß sie Hiezig je würde
drucken lassen, antraf, war ich nicht darüber beleidigt. Schamiso
hatte nämlich geschrieben: Sie ist liederreich, keine Dichterin.
Aus sei-
nen Briefen könnte ich viel Beweise führen, daß diese Worte nicht
aus seiner Ueberzeugung hervorgegangen sind. Er hatte einiges
Recht gegen mich verstimmt zu sein. Ich sehe seit manchem Jahre, daß
mir diese Worte ungeheuren Schaden gethan haben. Jener Richard
Wagner
hat in seiner Beurtheilung der Eurÿanthe
sicherlich auf
jene Autorität hin, Ahnliches geschrieben.
Das unbefangen Zeitgenossen
richtiger von mir denken und sprechen, daß England und Frankreich
mich kennen und ehren, daß mein Bewußtsein ein heiteres und
freudiges ist, kann mir in meiner jetzigen Lage nicht den Schaden
ersetzen, den mir gewissenlose Herabwürdigung zufügt. Nun ich
muß mich darein ergeben. Vielleicht erinnern Sie sich noch des
Grünen Almanachs
. Chamisso sandte ihn mir in Ihrem und
seinem Namen mit folgenden Worten zu:
Helmina
Du wirst, Helmina, lächeln den Gesängen
die mich das Herz in bangen Stunden lehrte;
Ach Schmerzen können nur den Busen engen,
dem, welchen nicht des Gottes Huld verklärte.
Die Kraft der Lieder flammt in hehren Klängen,
die hold der Schönheit Smintheus
dir verehrte;
Es werden meine Lieder stumm verhallen,
die Deinen zu der fernen Nachwelt wallen.

Seite „283r“

283

Die Weissagung ist nicht eingetroffen, allein ich bin
nichts desto weniger keine Dichterin. Meine Denkwürdigkeiten
wa-
ren längst begonnen. Der Schmerz über den Verlust meines Max
und über die Weltwirren, die so verhettert sind, daß sie kein
Diplomat mehr auf die Binde bringt, hat mich unterbrochen,
allein ich habe dennoch seit meiner Erblindung einen ansehnlichen
Theil davon dictirt. Bruchstücke stehen in meinen Auriken
in
Gubiz Zeitschrift,
in Munz Freihafen
, im
, welche alle
mit den gehörigen Punkten auf dem I in meinen Denk-
würdigkeiten erscheinen sollen. Es wird ein Buch werden, nach
welchem nicht allein die Neugier greifen wird. Seit dem ich nicht selbst
mehr schreiben kann, ist mir auch ein Band Nouvellen gelungen.
Ich betitelte ihn, wenn ich mich recht erinnere, Hof- und Gebirg-
Geschichten
. Ich habe Ihnen schon vor längrer Zeit nach der Verreins-
Buchhandlung nach Frankfurt a/m geschickt und Nichts weiter da-
von gehört. Meine Rahel
ist mir weggekommen. Ich hatte
sie zweÿmal. Ich glaube, wenn ich sie hundertmal gehabt
hätte, so hätten sich auch hundert Diebe dazu gefunden. Rich.
Spazier
, der in seiner nordischen Revue meinen Artikel über
die unsterbliche Todte aufgenommen,
allein die sorgfältigen Ueberse-
ungenÜbersetzungen zurückgelassen hat, ist vom völligen Untergang durch
eine edle Französin Tochter des Genarals Danice
durch
Wohlthaten und Collecte gerettet worden, und nun in Deutsch-
land, ich weiß nicht wo, Frid. Schlegels Schwester, die selige
Ernst, hielt ihn für einen Sohn Ludwig Tieks, er sieht ihm auch
wirklich ähnlich. Und im Uebrigen sind nicht viel Schwierigkeiten in
dieser Sache gewesen. Journale kann ich nicht lesen, obgleich hier
ein Journalzirkel existirt. Ich habe durch einen Freund gehört,
daß die Augsburger Zeitung für die Rechte der dramatischen
Dichter eine Polemik eröffnet hat. Ich hatte hierüber vor mehren
Jahren geschrieben.
Baron Klonse fand den Aufsatz gediegen,
da ich aber sah, daß der Heuwagen nach langem Stocken in Bewegung
setzte, ohne daß das Heupferdchen
heruntergesprungen, so ließ ich meinen
Aufsatz liegen. Wie gespannt bin ich auf den Ihrigen, lassen Sie mich
doch ja Zeitschrift und N˚ erfahren, ich werde mir ihn zu verschaffen
wissen.
Seien Sie mir dankbar und liebevoll gegrüßt. Gott segne Sie für Ihre edle Be-
mühungen um mich.
Ihre Freundin Chézy [×××]
Chezÿ
[Chezÿ]

Seite „283v“

P.S. Autographen von G. Sand, Genlis werden ich Ihnen finden,
sobald ich in ein kaltes Zimmer gehen darf.
Des Hochwohlgebornen Herrn
Geheimrath Varnhagen von Ense
Berlin