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Brief von Amalie Struve an Helmina von Chézy

Whitehouse [bei York], 2. August 1850
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 240 Struve Amalie, 19.02.1850 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Amalie Struve
Empfänger/-in
Helmina von Chézy
Datierung
2. August 1850
Absendeort
White House bei York
Empfangsort
Umfang
Abmessungen
Breite: 110 mm; Höhe: 181 mm
Foliierung
Foliierung durch die Biblioteka Jagiellońska noch ausstehend.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Pedro Kauffmann Amaral; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „1r“

Amalia Struve
an Fr. v. Chézy.
Whitehouse, York2ten August.
Adresse: Fothergill. jun. 1850.
Theuere, geliebte Freundin!
Dank Dir, tiefgefühlten Dank für Deine lieben
Zeilen welche Balsam in dieser Einsamkeit für
unsere Herzen waren!
Wir sind so traurig hier, ich möchte oft
vergehen vor Schmerz und Heimweh!
Die Arbeit und die Hoffnung halten uns
aufrecht und helfen uns unser Dasein
tragen. Wir leben in völliger Einsamkeit,
getrennt von allen unseren Freunden, jede
Anregung, jeder Austausch unter Freunden
fehlt uns; und in jeglicher Beziehung
lasten schwere Sorgen auf uns!
Ich kann nicht anders heute als Dir mein
Herz ausschütten, es ist übervoll!
Du wirst mir verzeihen, nicht zuvor Dir
Glück gewünscht zu haben zu dem herrlichen
Ruheplätzchen welches Du an den
schönen Ufern des mir unvergeßlichen
Leman See’s gefunden. Es war uns
beiden eine innige Freude zu erfahren
wie wohl es Dir in Deinem Häuschen
gefällt u. wie Deine Gesundheit sich
in der gesunden Schweizerluft stählt.
In diesem Zauberlande wirst Du Dich
gewiß bald gänzlich erholt haben.
Die Schönheiten der reichen Natur,
die herzlichen, biedern Menschen werden
einen wohlthuenden Einfluß auf Dich
ausüben. Wir verließen mit schmerz-
lichen Gefühlen dieses Land, wie gerne
wären wir Dort verblieben!
Aber die Verbannten dürfen keine

Seite „1v“

Ruhe finden, bis der Tag erscheint, der
Tag da sie entweder (oft in jungen Jahren)
in der Fremde dahinsiechen am gebrochnen
Herzen,) oder in das Vaterland, an den
heimischen Heerd zurückkehren können.
Die meisten Flüchtlinge welche irgend Mittel
haben, schiffen sich nach der neuen Welt
ein. So hat erst gestern unser junger
Freund Schnauffer (der Dichter der
Todtenkränze
) sich nach dem Westen
eingeschifft.
Werden wir unsere Freunde wohl
wiedersehen in diesem Leben?
Unter den Engländern haben wir
noch keine herzlichen Bekannte. Diese
Menschen kennen nicht unser Vaterland und
dessen Bestrebungen. Kaum wissen sie
daß Preußen in Deutschland liegt und
Österreich ein Kaiserstaat ist. Von
den Freiheitsbestrebungen unseres
Volkes können sie sich keinen Begriff machen
und die Verbannten werden im
günstigsten Falle als „Schwärmer“ und
„unruhige Köpfe“ betrachtet.
Hier ist kein Mitgefühl, kein
geistiges Zusammenleben!
Wir sehen fast Niemanden, sind in
der Regel stets allein, gehen selbst
nur selten aus unserer Klause heraus,
um größere Spatziergänge zu machen.
Es ist uns nicht möglich auch nur eine deutsche
Zeitung zu lesen, denke Dir,
liebe Freundin!! keine Zeitung aus dem Vaterlande!
Wir haben freie Wohnung in einem ziemlich
luftigen Gebäude und in Gemeinschaft

Seite „2r“

mit dem englischen Freunde
bestellen wir den
Kartoffelacker u. haben wir die Milch
mit ihm. Wir sind darauf hingewiesen
nur von Schriftstellerei zu leben.
Gustav schreibt Artikel in einige Zeitungen
um geringes Honorar u. die Romane

bringen uns auch eine Kleinigkeit ein,
wenn ich Verleger finde.
Eine solche Existenz ist wie Du wissen wirst
sehr unsicher. Stunden haben wir trotz
aller Anstrengungen, welche wir machten,
noch keine gefunden.
Doch gedenken
wir nichtsdestoweniger so lange auf
europäischem Boden zu verbleiben, als wir
irgend unser Leben fristen können.
Es freut mich daß du „Westminster“

angefangen zu lesen und ich bin begierig Dein
Urtheil zu hören. Der Roman ist be-
arbeitet nach einem ungedruckten Trauer-
spiele
von G. d. h. der geschichtliche
Stoff davon diente zur Grundlage, der Roman
aber als solcher ist neu. „Heloise Desfleurs

wirst Du auch jetzt erhalten haben, wo nicht
so frage bei „Buchhändler Schlodtmann
in Bremen“ an.
Mit was beschäftigst Du Dich
liebe Freundin?
Ich habe den Bauernkrieg
von Zimmermann
vor kurzem wieder durchgelesen.
Dieses Werk bietet reichen und
herrlichen Stoff zu geschichtlichen
Romanen. Ich habe mir einige
verzei aufgezeichnet, welche ich zu
schreiben gedenke.
Georg (DosaDosa)
, Wat Tyler,

Seite „2v“

die schwarze Hofmännin
u. Anderes
Leider haben wir nur wenige Bücher hier
u. fehlt es an gar Vielem um
ordentlich schreiben zu können.
Hast Du Gustav's „Geschichte der drei
Revolutionen in Baden. Bern Jenni Sohn“

und seinen Volks-Kalender. 1850. Herisau.
bei Buchh Schläpfer gelesen?

Diese beiden Werken würden Dich gewiß
interessiren. Es thut mir leid sie Dir
nicht anbieten zu können, wir selbst
besitzen kein eigenes Exemplar davon.
Wenn Du, liebe Freundin, in Betreff
des besprochenen Frauenalmanachs
Etwas
thun könntest, würde ich dies als einen
Liebesdienst u. Beweis Deiner
Freundschaft für mich gerne annehmen
und Dir sehr dankbar sein. Von
hier aus, abgeschnitten von der Welt
außer allen Beziehungen fast, verzweifle
ich fast an der Hoffnung Etwas für
dies Unternehmen thun zu können.
„Träume“
„Die gefesselte Heimat“
,

„Eines Freischärlers Grab“
.
Der Friedhof zu Mannheim
etc.
habe ich skizziert u. wären dies
gewiß würdige Beiträge zu dem
Werkchen
. Von Johanna Kinkel
habe ich schöne Gedichte. Von
Carl Heinrich Schnauffer ist mir
eine Novelle zugesagt „Flüchtlingstod“

u. Frau Anneke wird auch einen
Beitrag liefern (Frau Anneke ist Schriftsteller
unter dem Namen Mathilde Franzisk[a]

Seite „3r“

Wir würden wohl thun uns aber sehr damit
zu beeilen, es könnte sonst leicht für
den nächsten Jahrgang zu spät werden.
Lieber mag der Frauenalmanach
etwas
kleiner werden, als der Druck
verspätet werden.
Lucretia hielt ich für den
geeignetsten Titel des Frauenalmanachs.
Ich schlage ihn Dir zur Prüfung vor.
Ein kleines einleitendes Gedicht auf den
Tod Lucretiens u. dessen Folgen

ha ist bereits fertig.
Ich erwarte Deine Meinung
über Alles dies. Aber nochmals bitte ich
Dich, die Sache so rasch als möglich zu
betreiben, da sonst der Frauenalmanach
auf das Jahr 1851 nicht mehr
erscheinen kann.
Kannst du mir interessante Bücher
wie namentlich Legouvé
besorgen, bin ich Dir
unendlich dankbar, es ist Manna
in die Wüste gesandt
!! Doch
bitte ich Dich mich bevor Du sie
absendest mich es das wissen zu
lassen, Mit der Post u.
denn namentlich der Eingangszoll ist
fürchterlich theuer. In London
bemächtigen sich gewöhnlich dann Agenten
der Sendungen, welche in das
Innere Englands gehen, und
lassen sich bedeutende Summen
zahlen. Wir haben solche
Gustav grüßt Dich von Herzen.
Ihm ist schwer zu Muthe, er ist nicht minder traurig als ich es bin.
Doch wir trösten uns mit dem Gedanken beisammen zu sein u hoffen,

Seite „3v“

Erfahrungen gemacht, darum sind wir
vorsichtig.
Aus Mannheim namentlich erhielten wir neulich
frco
ein kleines Päckchen Papiere;
Eingangszoll u. Abgaben an den Agenten
in London der das Päckchen nach York
absandte hatten wir aber 1½ Pfund
zu zahlen, ungefähr 15 fl!
Vieles möchte ich Dir noch schreiben, möchte
lange mit Dir noch mich unterhalten, ‒
aber ich muß für heute schließen wenn
anders ein Gedicht das ich Dich wissen
lassen will, Pflatz auf diesem Blatte finden
soll. Lebewohl! liebe Freundin!
Behalte mich lieb und
denke meiner! Deine treue Amalie St.
„Auf Alfred Michels Tod.

geboren zu Hamburg, gefallen im Treffen
bei Oos, am 30 Juni 1849.

„Was liegt an uns ‒ wir werden
Zu unsern Zielen kaum fliegen,
Vielleicht ein Sturm bezieht unsern Baum,
Schlägt unsern Wogenzug zu Schaum,
Doch uns’re Brüder siegen!
Alfred Michel, 1 Jan. 1849.
Ein blutig Heldenhaupt ‒ so ragt
Verklärt der Montblanc in der Abendgluth;
Ich schau’ empor u. meine Seele klagt
Um einen Mann, der also unverzagt

Einst vor uns stand, in heißem Kampfesmuth
Und jetzt ‒ in kühler Erde ruht.
Und wie der Nebel düster über’n See ‒
So flattern meine traurigen Gedanken
Der Heimat zu, wo Epheu, Dorn und Klee
Wild um’s vergeß’ne Grab des Helden ranken. ‒
Vergessenheit ‒ das ist der Männer Loos,
die für das deutsche Volk im Schlachtgetos'
Hinopfern ihres Lebens letzten Tropfen;
Sie aber die vom Weine roth,
Wild auf die Rednerbühnen klopfen,
Von Hunger schreien u. von Brod
Und weit vom Schuß, von Pulver und Schrot
Uns wundersame Dinge melden,
Sie ärnten den Ruhm, sie sind die Helden,
Weil sie am besten ‒ ‒ schelten.
„Was liegt an uns!“ Wir sterben wundenvoll,
daß feige Schwätzer unsern Lorbeer tragen!
Wohl anders freilich war Dein Wort gemeint:
Durch Blut nur können wir an's Ziel gelangen! ‒

Seite „4r“

In Waffen stürtztest Du Dich auf den Feind,
Aber besiegt u. darum unbeweint,
Und unerkannt bist Du in Tod gegangen. ‒
Die Zeitgenossen sind gerechtig nie,
Drum härm sich nicht darob Dein blut’ger Schatten,
Beugt Götzen tief die blöde Welt das Knie,
Wenn still im Feld sie Dein Gebein bestatten,
„Was liegt an uns! wenn nur die Brüder siegen!“
O könnt' Dein Wort mit hellen Flammenzügen
Auf jed' Panier, in jedes Herz ich schreiben,
Um uns're Zeit zur letzten Schlacht zu treiben! ‒
Die Schwerter alle rostig ‒
Die Herzen alle frostig ‒
Jede Hoffnung ist dürr, aller Muth ist hin,
Und der Galgen steht fest u. der Kirchhof ist grün.
Ein hungernder Riese im Trübsinn irrt
Das deutsche Volk durch die Lande
Und die Peitsche schwirrt u. die Kutte klirrt
Und es weint ob der Noth u. nicht ob der Schande!
Von Thränen wird keine Kutte weich,
Das beste Mittel ist der beste Streich,
Ein Vorbild thut dem Volke Noth,
Wir müssen voran in Schlacht u. Tod,
Denn es ist ein geheimer, mächtiger Zug,
Der in der Werkstatt u. der am Pflug
Die Menschenherzen plötzlich ergreift!
Und still, wie aus dürren Schollen die Saaten,
Erscheinen Cäsaren, Männer der Thaten;
Zum riesigen Weltkampf in Hütten gereift! ‒
Wie der Epheu sich lagert u schläft in Ruinen,
So nisten sie an die gebroch'nen Gewalten
Und hoffen wieder das Reich zu behalten, ‒
Die Uhr. der Menschheit aber steht nicht still,
Solang die Zeit noch vorwärts will
Und morgen donnern die berstenden Mienen,
Und ‒ ‒ Staub sind Europa’s Mandarinen!
Wenn der Wald sein grünes Banner hebt,
Wenn der Lenz das Kleid der Rose webt,
Wenn auf Michel's Grab des Frühling’s Zeugen steh’n,
Dann wieder froh wird uns’re Fahne weh’n!
Die Sehnsucht schießt in meinem Herzen auf,
Schon treibt das Heimweh’ tausend Sprossen!
Ihr kurzen Tage, beflügelt den Lauf;
Mich reißt es in’s Vaterland zu den Genossen!
In die Seele dringt mir’s wie Maienstrahl,
Wie der Sturm ist mein Verlangen,
Wie Knospen schwellen, hebt sich froh die Brust,
O das ist Siegesmuth u. Waffenlust,
So komm’ Du Völker-Genius einmal,
Wie lang’ noch sollen die Bedrückten bangen!

Seite „4v “

Und Du mein Held! ruh’ still in kühler Erden,
Bis die Gedanken Körper werden,
Bis die Menschheit würfelt um ihr Loos;
Dann steige aus dem Grabesschoos;
Ein feurig Sternbild zieh’ in schwarzer Nacht
Uns im Gigantenschritt voran zur Schlacht;
Und wann wir zagen, ob uns selbst erschrocken,
Zeig’ Deine Wunden, Deine blut’gen Locken,
Und lehr’ uns furchtbare Rachen nehmen
Und opfere des Todfeind’s tückische Brut;
Sein Leben soll über die Erde strömen,
Wie breit am Himmel des Nordschein’s Gluth! ‒
Und ist geschehen, was geschehen muß!
Und hat fernhin vertönt der letzte Schuß,
Ist das letzte Haupt uns zu Füßen gefallen,
Das herrschen wollte über uns Allen:
Dann magst Du froh in Deine Grube zieh’n
Wie Blumen wird Dein Angedenken blüh’n
Denn wo die Freiheit aufschlägt ihre Hütten,
Da mahnen Alle, ‒ die für sie gelitten!
Carl Heinrich Schnauffer.
Willst Du dies Gedicht nicht Alfred’s Mutter
zugehen lassen, liebe Freundin:
Es würde sie gewiß erfreuen zu sehen
daß ihres tapferen, wackeren Sohnes
gedacht wird.
Das Mädchen von Venedig“(*)
Beim Bataillon der Jäger, der bravsten Kämpferschaar,
Da stand ein Fahnenträger, Schön wie kein and’rer war.
Er hatte schwarze Locken Und Wangen roth wie Blut,
Sein Aug’ so unerschrocken, das war wie Sonnengluth.
Und auf dem blut’gen Pfade Und bei dem schwersten Strauß
,
Trug froh, wie zur Parade Die Fahne er voraus.
So zog er aus der Schanze Wohl oft in’s freie Feld,
Und kam im Siegeskranze, Und kam zurück als Held
Doch endlich sank er nieder, In’s Herz getroffen schwer,
Und weinend trugen Brüder Ihn auf den Waffen her.
Die Stirne u. die Haare Von Lorbeer grün umlaubt,
Lag schön er auf der Bahre, Die Fahne unterm Haupt,
Und vor ihm stand ein Jäger, In tiefster Seel betrübt,
Er hat den Fahnenträger So einzig ja geliebt.
Denn wer so frei und ledig Auszog und starb im Feld ‒ ‒
Ein Mädchen von Venedig War unser Fahnenheld!!
Schnauffer
Schreibe mir bald, meine liebe Freundin, u. ausführlich
Könntest Du ahnen wie hoch Deine Briefe mich
erfreuen, Du würdest nicht so lange mich warten lassen

Deine A
*) Diese Jungfrau war eine Jugendfreundin u. begeisterte Anhängerin
Mazzini’s. u. st fiel bei der Belagerung von Venedig 1849.
Hoffen ‒ ‒ ‒ immer ‒