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Brief von Fanny Tarnow an Karl August Varnhagen von Ense

Dessau, August 1849
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 121-122 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
August 1849
Absendeort
Dessau
Empfangsort
Berlin
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 130 mm; Höhe: 205 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „121r“

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[Karl August Varnhagen]
Fanny Tarnow.
Am 2. Sept. erhalten.
Dessau. Im August 49.
Gewiß bedarf es der Entschuldigung, daß
ich Ihnen, verehrter Freud, erst jetzt die beigehen-
den Bücher zurücksende – aber ich war krank – Wochen,
Monate lang krank u ach! noch welker an Seel
u Geist, wie ich es körperlich war. Wie erhaben ist
es ein Unglück zu ertragen, das wie ein Gewitter
über uns hinwegrollt u unser Leben wie ein Erdbeben
erschüttert – aber wie bitter, wie schmerzensreich ist
das Gefühl wenn man sich des geistigen Zusammen-
schrumpfens bewußt wird u hofnungslos auf die ent-
schwundene Kraft der Seele u des Geistes zurück-
blickt! – Nie aber hätte mich das körperliche
Altern, diese stille, allmählig vorschreitende Natur-
nothwendigkeit so mir selbst zu entfremden
vermocht, je jugendfrischer ich mit aller Seligkeit
der Begeisterung im vorigen Jahr auf Deutschlands
Wiedergeburt hoffte, je hofnungsloser ist mir
jetzt das Herz gebrochen. Ich kann u mag nicht
leben ohne Zuversicht, daß eine sittliche Vollendung
das höchste Gesetz u das Ziel des Völkerlebens, wie
für den einzelnen Menschen u mein Glaube daran ist
erschüttert. All dieser sich täglich immer neu offen-
barende Jammer der verächtlichsten Selbssucht
u Nichtswürdigkeit, der es dem höheren Menschengeist
kaum mehr zuläßt sich klar auf sich selbst besinnen
zu können, ist für mich Gift. Wenn man sich in der
Welt u im Leben auf nichts mehr verlassen kann
so muß wohl die Sehnsucht die Welt zu verlassen
den Lebenstrieb überwältigen. –
Und dabei lebe ich so vereinzelt, als seӱ ich

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in eine menschenleere Wüste verbannt. – Ich
sehe viel Menschen, höre aber nie ein Wort, an dem
sich meine Seele erquicken könnte. Der ganze Kreis
in dem ich hier lebe ist von dem blindesten Fana-
tismus einer durchaus rücksichtslosen Reaktion
ergriffen. Ich weiß unter allen diesen Männern
auch nicht einen, den ich eines Herzschlags für Deutsch-
land u irgend eines großen Gedankens fähig
halte; Keiner räumt die Möglichkeit ein, daß
es unter den Liberalen edle Menschen geben
könne - alles ist Gesindel, alles muß mit Schwert
u Bajonet nieder gemetzelt werden – u nun
vollends der Frauen! – ihr reaktionärer
Fanatismus gränzt wahrlich oft an Wahnsinn! –
So lebe ich nun ein schweigsames, tief verschlossenes
Daseӱn – der Gram um mein Vaterland, um meinen
verlorenen Glauben hat mein Seelenmark aufgezehrt.
Wer von uns hat nicht Augenblicke – Stunden –
Tage gelebt in denen man sich unter sich selbst
herabgesunken fühlte – doch es war nur ein
vorübergehender Zustand. – Fängt man aber zu
fühlen an, daß man nichts mehr ist als eine bedeu-
tungslose Erscheinung – vermag man nicht mehr sich
an irgend etwas Unwandelbaren, Ewigen
aufzurichten – dann sehnt man sich nach dem Tode
mit aller Macht des Wünschens, die Einem diese
schmähliche Gefangenschaft des irdischen Lebens
noch gelassen hat. –
Wie kommt es, daß mir das Herz gegen Sie zu
diesen Klagen aufgeht? – Mir ist, als könne mir
von Ihnen Trost kommen. Sagen Sie mir woran

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u wie Sie Sich in dieser Zeit halten u aufrichten u ich
will Sie dafür segnen. – Ihre Theilnahme an der
Goethe-Feier
hat mir sehr wohl gethan. – Hier in
Dessau kümmert sich keine Seele um das Andenken
an den Mann, der die Ehre u der Stolz des Vater-
landes war u es bleiben wird. Gälte es die Hyäne
Haÿnau
zu feiern, so würde es an Teilnahme
nicht fehlen.
Ich habe den Prinzen Ludwig Ferdinand
von der Lewald
gelesen; selten aber hat mich ein Buch so unbe-
friedigt gelassen. Hat unsre unvergeßliche,
unvergleichliche Rahel denn wirklich den Prinzen
so leidenschaftlich geliebt? – Rahels Bild lebt
in meinem Herzen in zehnmal größerer Herr-
lichkeit als die L. sie geschildert hat. – Und was
den Prinzen anbetrifft, so möchte ich wohl, lieber
V. daß Sie mal einen Blick auf meine Schilderung
desselben würfen – Sie finden diese in einem der
ersten Bände meiner Schriften in der Erzählung
Thekla
. Mich dünkt ich habe ihn poetischer u
mit schönerer Begeisterung aufgefaßt als die L. – Jetzt
frage ich mich immer wo dann die Fanny Tarnow
geblieben ist die einst jeune & superbe jene
Thekla schrieb. Mir ist sie ganz von Abhän-
den gekommen
. –
Grüßen Sie mir die Nichte u bitten Sie Frl Solmar
um eine freundliche Erinnerung. Gott schenke Ihnen,
theurer Freund, alles was Sie zu erfreuen u zu
erhalten vermag. Lassen Sie mir den Trost mich
von Ihnen nicht ganz vergessen zu glauben
– das beste, was ich noch in Anerkenung geistiger
Trefflichkeit u treuer, unwandelbarer Freundschaft
zu empfinden vermag, bleibt Ihnen bis zum
letzten Schlage meines Herzens geweiht.
Fannӱ.

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