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Brief von Fanny Tarnow an Karl August Varnhagen von Ense

Dessau, 24. Oktober 1847
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 119-120 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
24. Oktober 1847
Absendeort
Dessau
Empfangsort
Berlin
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 135 mm; Höhe: 215 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „119r“

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[Karl August Varnhagen]Fanny Tarnow.
Dessau. den 24sten 8b
Vermöchte ich es doch, Ihnen, mein verehrter
Freund, ganz so lebhaft u so warm als ich sein
empfinde, die Rührung auszudrücken, mit der
Ihr Gedenken meiner, mein Herz erfüllt hat! –
Ich bin seit Monaten in einer Stimmung in der
ein so freundliches Erinnerungszeichen wie Ihre
Chocoladensendung doppelten Werth für mich
hat. Der Kreis unserer Zeitgenossen verengt
sich mehr u mehr, lieber Varnhagen – Wir
wissen uns Beide in Verbindung mit der
Jetzwelt zu erhalten u haben uns ihren
Sympathien nicht entfremdet – aber dieses
uns jetzt umgebende Geschlecht hat nicht mit
uns gelebt, gehofft, gelitten u geliebt – es
ist doch eine große Kluft zwischen uns. Die In-
nigkeit meiner Anhänglichkeit an alte Freunde
wird von Jahr zu Jahr kräftiger u wärmer u
so theurer Freund, lebe ich auch, ohne daß Sie es
ahnden mit Ihnen, im Geist immer traulicher u herzlicher
fort. Wird es einmal öde um mich u in mir, so hole
ich mir ein Buch von Ihnen oder einen Band von
von unsrer Rahel u erfrische Herz u Geist in
diesem Verkehr mit Ihnen, die für mich ganz
Eins geworden sind. Ich muß meinen Dessauern
gut seӱn, da sie mich mit Beweisen ihrer
Achtung u ihres Wohlwollens überhäufen,
kann es mir aber doch nicht verheimlichen, daß
es mir hier an jeder geistigen Anregung
u Mittheilung fehlt. Man lebt hier wie
in einer Oasis, in deren Bezirk eingeschlossen,
man sich durchaus nicht um das kümmert, was
draußen vergeht; ich kann mich aber vor dem
Weh des Veraltens – alt werden ist

Seite „119v“

etwas ganz andres – nur durch die lebendigste
Theilnahme an allen herrschenden u leitenden
Ideen unsers Zeitalters, schützen. So bin ich
denn im vielfachen Menschenverkehr doch
sehr einsam hier. Seit Jahresfrist habe ich
nun auch viel Ernstes u Trübes in u außer
mir beseitigen müssen. – Ich war im Frühjahr
lebensgefährlich krank u diese Krankheit
hat mir eine physiologisch merkwürdige
Unfähigkeit zu allen litterarischen Arbeiten
zurückgelassen. Es ist nicht körperliche
Schwäche u wenn das Ubel gleich geistigen
Ursprungs ist, ist doch die Quelle desselben
räthselhaft verborgen, da sie nicht in Abstumpfung
oder Ersterben einer einzelnen Geisteskraft
zu suchen ist. Mir sind dadurch alle Mittel
zum Erwerb abgeschnitten u ich muss mich
nun sehr einschränken u mir Manches versagen.
Das Alter bedarf aber mancher Behaglichkeit
auf die man in der Jugend keinen Werth
legt u auch der körperlichen Pflege. – Mit
diesen mir auferlegten Entbehrungen kam
ich indessen bald aufs Reine; das Gefühl der
Trägheit, das bittre far niente
, das mich monat-
lang beklemmte, gehört dagegen zu den schwersten
Prüfungen meines Lebens u mir war, als
habe ich die Kraft eingebüßt, die tiefe Schwer-
muth zu besiegen, die sich meiner bemächtigt
hatte. – Tiefer, als ich wähnte, daß es hienieden
noch der Fall seӱn könnte, hat mich der
Selbstmord der Gräfin Henk erschüttert,
deren Sie sich noch wohl erinnern. Verrathene
Freundschaft u die Herzlosigkeit ihrer
Familie hatten diesen Entschluß in ihr
erzeugt. Sie tödtete sich durch Kohlendampf
u das mit heroischer Willenskraft, wo

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wir am Morgen auf ihrem Schreibtisch ein Blatt
fanden, das die Annäherung des Todes u das
gesteigerte Gefühl derselben in einzelnen
Worten aussprach: „nun kommt der Tod –
keine Schmerzen – Betäubung – Schwindel –
dies letzte Wort war kaum mehr
leserlich – der Schreibtisch stand so nah
am Fenster, daß sie nur die Hand aus-
zustrecken brauchte, um dies zu öffnen –
statt dessen war sie aufgestanden u hatte
sich sehr anständig auf ihr Bette gelegt. –
Ich hatte sie sehr lieb u sie nannte mich oft
ihre einzige Trösterin. – Ich flüchtete mich, so
bald meine Gesundheit es erlaubte, in eine
reizende ländliche Einsamkeit nach dem Gut
einer Freundin, die mit Frau v. Bardeleben
nach Paris gegangen war u nun bin ich
seit Monaten wieder hier u lebe recht
ruhig u ungestört, muss aber oft an Lichten-
berg
denken, der ein Blatt weißes Papier
in seinem Schreibtisch hatte, auf welches er
seine Freuden u alle Glücksfälle aufzeichnete
u dann oft des Morgens betete: „ach, lieber
Gott, schenke mir heut etwas für's Papier-
chen! “ – Auf meinem Papierchen steht nun
auch Ihre Sendung u ich sage recht von Herzen:
Gott lohne es Ihnen! – ich danke Ihnen
geistige und körperliche Equickung. –
Meine Nichte Amalie Bölte hat sich Ihnen nun
persönlich vorgestellt. Ich erwarte sie
in künftiger Woche da sie am 2ten k. M.
zu mir kommen will u das mit einigen
Zagen, da ihr jetziges Thun und Treiben, ihr
Streben u Wollen für mich etwas mir
durchaus nicht Zusagendes hat. Haben Sie die
Correspondenz in dem Gränzboten
gelesen

Seite „120v“

in der sie Sie „vor“ ihrer Ankunft in Berlin
für das Ideal aller männlichen Vollkom-
menheit erklärte?
ich möchte, daß Sie mir
aufrichtig sagten, welchen Eindruck sie Ihnen
gemacht hat. Sie hat Verstand allein nicht den
rechten Versteh-Verstand, der zum Verständniß
führt.
Die Herz
ist nun auch geschieden. – Ach, wenn ich doch
von den 500 rth die ihr der König jährlich
gegeben hat, nur 100 rth jährlich erben könnte,
doch es ist mir nicht gegeben worden irgend
etwas von Menschengunst u am Wenigsten von
Gunst der Großen aufspeichern zu wollen.
Und nun, mein Theurer, innig geehrter Freud, mein
herzlichstes Lebewohl. Der Himmel erhalte
Ihnen Alles, was Ihr Leben zu erheitern vermag!
Erhalten Sie mir in Ihrem freundschaftlichen
Andenken eine meiner schönsten Lebens-
freuden.
Fannӱ.