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Brief von Fanny Tarnow an Karl August Varnhagen von Ense

Dessau, November 1846
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 111-112 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
November 1846
Absendeort
Dessau
Empfangsort
Berlin
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 135 mm; Höhe: 215 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „111r“

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[Karl August Varnhagen]Fanny Tarnow.
Dessau. Im November 46.
Herzlichst danke ich Ihnen, mein theurer verehr-
ter Freund, für Ihren Brief, der mir als ein Beweis
Ihres freundschaftlichen Andenkens unschätzbar
ist. Die Schattenseite des Alters – das für mich auch
viele Lichtseiten hat, ist die Vereinzelung der es uns
allmählig preis giebt u wenn ich gleich von meiner
Zeit u meinen Zeitgenossen weniger abgeschieden
lebe, als dies bei Matronen gewöhnlich der Fall ist, so
kann ich mir doch bei aller Nachsicht u Freude die ich
mit u an der Jugend habe, einen Mangel an Tüchtig-
keit u Gesinnung nicht verbergen, der mich schmerzlich
verletzt u daher ist es mir so unaussprechlich viel
werth in Ihnen einem Freunde die Hand zu reichen,
zu dessen bewährter Gesinnung ich volle Zuversicht
halte. Heut zu Tage haben die Menschen nur noch
Zwecke, aber keine Ideale in der Seele, keine
hohe Ideen mehr im Geiste. –
Meine Nichte Amalie ist ein originelles Wesen mit
beinah eiserner Willenskraft, seltner Geistesthätig-
keit u Verstandesschärfe ausgerüstet; aber liebens-
würdig ist sie nicht, Erhalten Sie ihr ihre Theilnahme,
die sie nach ihrem ganzen Werthe zu würdigen
weiß; sie ist durchaus achtungswerth. Ihre kleine
Erzählung „Die junge Deutsche in London“
ist sehr unbe-
deutend u enthӓlt gegen den Schluß einen Verstoß
gegen die aristokratische Gesinnungsweise der
höhern Stände, den ich Nichte Amalie nicht verzeihen
kann, die nun schon jahrelang in den vornehmsten
Häusern des englischen Adels gelebt hat.
Ich meine
hiemit nicht Luisens Verheirathung, sondern das
Verhältniß in das die Königin sie zu sich stellt.
Vor einigen Tagen ist aber von Amalie die Ueber-
setzung eines englischen Romans „Der Hasenfuß“

Seite „111v“

erschienen, der mir so amüsant erschienen ist, daß
mir das langweilige Geschäft der Correctur
gar nicht unangenehm geworden ist. – Sie hat
Ihnen, wie Sie mir schreibt, einen Aufsatz über
ihren Besuch in Oxford gesandt – ist er brauchbar,
interessant?
Mit einigem Bedauern habe ich aus Ihrem Briefe
erfahren, daß Sie, theurer Freund, mit dem Erfolg
Ihrer diesjährigen Badereisen durchaus nicht
zufrieden sind u ach! wie lebhaft fühle ich es
mit Ihnen, daß sich alles Leid ertragen liesse,
wenn man nur arbeiten könnte! – Ich war diesen
Frühling lange u lebensgefährlich krank u diese
Krankheit hat mich zu jeder litterarischen Be-
schäftigung unfähig gemacht. Seit länger denn 50
Jahren daran gewöhnt, täglich einige Stunden am
Schreibtisch zu zu bringen, konnte ich es mir gar
nicht denken, wie sich diese Lücke in meiner
gewohnten Thätigkeit ausfüllen werde u könne.
Das hat sich indessen gefunden – Ich habe einen
überaus schönen u reichen Sommer bei einer
meiner Freundinnen, der Majorin Serre auf
Maxen bei Dresden verlebt. Die liebenswür-
digste, zwangloseste Gastfreiheit macht Maxen
zu einem Sammelplatz von Notabilitäten der
Kunst, Litteratur, Wissenschaft u der überall
sich einfindenden europäischen Salon-Gesellschaft –
die Gegend ist herrlich u ich konnte ganz nach meiner
Neigung doch viel einsam seӱn. Körperlich habe
ich mich auch sehr erholt; der heiße Sommer hat mir,
deren Lebenselement Sonnenschein u Wärme
sind, sehr gut gethan – doch hat sich meine Antipa-
thie gegen Dinte u Feder nicht verloren. Ich
lese sehr viel u die Erinnerung macht mir die
Vergangenheit zu einer so lebensvollen Gegen-
wart, daß ich keine geistige Entbehrung

Seite „112r“

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fühle; ich bin aber nun auf ein sehr kleines Ein-
kommen beschränkt u muß mich wieder knapp be-
helfen lernen. Nun habe ich erst im Alter manchen
Comfort des Lebens lieb gewonnen u das Alter
hat keinen Ersatz mehr für das was man an Bequem-
lichkeit aufopfern muß; dies stört aber meinen heitern
Frieden nicht u ich glaube es giebt nicht leicht ein gegen
Gott dankbareres u in sich zufriedeners Wesen, als
ich es bin. Ich habe viel gelitten, viel erfahren, mein
Freund; Stürme gewaltiger Leidenschaft haben mich
bis zur Verzweifelung erschüttert – doch die Gewit-
ter sind vorüber gezogen u der Abend ist still
u heiter geworden. Schlechte Menschen haben in
meinem Leben nur sehr selten die Macht über mich
gehabt mir Böses thun zu können u mich empfindlich
zu kränken; je inniger ich aber einen Menschen
geliebt u geehrt habe, je tieferes Weh ist mir
gemeinhin von ihm gekommen. Nur einen Freund habe
ich im Leben immer gleich groß, würdig u treu er-
funden u das war Klinger u daß ich diesen
Mann fassen u erkennen konnte, daß er es so
oft aussprach, er fühle sich von mir verstanden, wie
ihn im ganzen Lauf seines Lebens nie ein andres
Wesen verstanden habe, unterscheidet mich nach
meinem Gefühl, von den gefeierten Frauen unsrer
Zeit, die sich in ihren Schriften alle unfähig zeigen
männliche Karaktergröße zu begreifen u zu
schildern. Dies trifft vorzüglich die Gräfin Hahn.
Die Arme hat nie geliebt u kann nicht lieben,
denn welche liebende Frau könnte es ertragen
den Mann ihrer Liebe um ihretwillen geschmäht
u gekränkt zu sehen, wie es mit Byßtram
der Fall ist, der von seiner eigenen Familie zurückge-
stoßen, nie das Haus ihrer Mutter betreten u
eben so wenig bei ihrer vertrautesten Freundin,
der Fürstin Schönburg erscheinen darf. – Haben
Sie ihren neuesten Roman „Sybille“
schon gelesen?
Es ist für mich das trostloseste Buch, das ich seit
lange in Händen gehabt habe u ein merk-

Seite „112v“

würdiger Beitrag zur Geschichte des neuern
Lebens seiner Verfasserin. Kühne hat es in der
Europa
besprochen, aber die Hauptbedeutung
desselben unbeachtet gelassen; diese liegt für
mich in der tiefen, sehnsuchtsvollen Glaubensbe-
dürftigkeit der Verfasserin u in ihrer Seelendür-
re u Oede, in ihrer unüberwindlichen Unfähigkeit
glauben zu können. Sie möchte so gerne katholisch
werden – aber sie kann nicht! – sie kann nicht! –
O Varnhagen, welch ein tiefes unergründliches Ge-
heimniß ist doch diese Glaubensfähigkeit! – Sie
muß uns angeboren seӱn, wie das Genie zur Musik
oder zur Kunst – erwerben u erringen läßt
sie sich nicht! –
Unser hiesiges gesellschaftliches Leben ist sehr hohl
u nichtig u ich ziehe mich aus dem größern Zirkel
mehr u mehr zurück, wozu mich meine Gesundheit
berechtigt, da ich fast immer von der Gicht
gelähmt bin u nur selten mein Zimmer verlassen
kann. Was mich jetzt erfrischt u erquickt ist
die Macht der öffentlichen Meinung in Hinsicht
auf Schleswig-Holstein
. Das ist doch Fortschritt,
mein Freund. – Die öffentliche Meinung ist doch
in Deutschland zu einer Souvereinität gewor-
den, der kein deutscher Fürst sich öffentlich zu
widersetzen wagt.
Aber, hilf Himmel! wie bin ich ins Plaudern ge-
kommen! ich muss nur schnell ein Ende machen; es könnte
sich sonst begeben, daß ich noch ein Blatt anlegte.
Denn wie vieles möchte ich noch mit Ihnen besprechen.
Zu Weihnachten hoffe ich nach Berlin zu kommen
u Gott schenke mir dann die Freude, Sie recht wohl zu
finden! – Erhalten Sie mir Ihr freundschaftliches
Andenken, das für mich von so hohem Werthe
ist, da ich Ihnen unwandelbar mit der wahrsten
u herzlichsten Hochachtung treu ergeben bin
u es stets bleiben werde. Fannӱ.