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Brief von Fanny Tarnow an Rosa Maria Assing

Sankt Petersburg, Oktober 1816
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 19-20 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Helmina von Chézy
Datierung
September 1819
Absendeort
Sankt Petersburg
Empfangsort
Hamburg
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 115 mm; Höhe: 190 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; Auszeichnung nach TEI P5 durch Betty Brux-Pinkwart; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „19r“

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Assing.
Petersburg. Im 8br 16.
Dies Blatt bringt Ihnen, meine freundliche Rosa Maria
u Ihrem Gatten meine herzlichsten Grüße voll recht
liebevollen Andenkens an Sie u die mit Ihnen verlebten
Stunden, deren Erinnerungen mich hier in dem fremden
kalten Lande, recht sehnsüchtig u wehmüthig bewegen
Auch Sie haben meiner zuweilen freundlich gedacht, –
nicht wahr? u das danke ich Ihnen recht aus Herzensgrund
denn dies Andenken meiner deutschen Lieben, die Hofnung
u die Gewissheit ihrer Theilnahme ist das Einzige was mich
gegen den Frost dieses Climas schützt. – Ich kann mich hier
ferne von der Heimath gar nicht einheimisch fühlen lernen.

es ist hier vieles gut u lebenswerth; ich lebe in einer
sorgenlosen Lage; mein Geist fühlt sich durch die Neuheit,
die Schönheit u die Pracht der äußern Erscheinungen viel-
fach angeregt, es giebt hier auch recht liebe Menschen –
aber ich vermisse bei allen den eigentlichen Ernst des
Lebens u es wird mir hier erst klar, welch ein unent-
behrliches Lebenselement er für jedes deutsche Gemüth
ist. Ach, liebste Rosa, könnte ich doch mal einen Abend
wieder bei Ihnen in Ihrem kleinen Stübchen seÿn u mich
an Ihrem u Ihres Assings Glück freuen u es mir so gemüthlich
wohl seÿn lassen bei Ihnen! – An solche Abende, solche
trauliche Unterredungen ist hier nicht zu denken, der
ungeheure Luxus erdrückt alle Herzlichkeit u in den großen heißen
Zimmern ist man höchstens geistreich, nie geistvoll. Bin ich
hier in Gesellschaften so fülle ich meinen Platz aus; aber das
Herz geht mir hier nie auf u man lebt doch im wahren,
vollen Sinn des Wortes nur im Herzen u mit dem
Herzen.
Ich kann Ihnen nicht sagen welch eine eigene Wirkung das
großstädtische Leben ge auf mich macht, nachdem ich die letzten
3 Jahr sehr einsam, in einem kleinen Landstädtchen, fast nur

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mit meiner lieben unvergeßlichen Mutter u mit Bettÿ
lebend, zugebracht habe. – Damals hatte ich mit mancher
Sorge zu kämpfen u mit dem tiefen Schmerz zu wissen, das
Uebel meiner Mutter seÿ hofnungslos u nur der Tod könne
ihre Leiden enden – u doch wie viel reicher war jene
Einsamkeit, als dies bunte Gewühl, in dem ich mich jetzt
befinde! – Mein ganzes Seÿn war damals in meinem
Herzen, in meinem inneren Leben zusammengedrängt u
die stille Geduld, die unüberwindliche Liebe von der
meine seelige Mutter uns das Vorbild war, erhielt
im Grunde unsren Seelen, auch in der tiefsten Traurigkeit
einen Frieden, den man empfunden haben muß, um
es zu begreifen, wie er im bittersten Leid zu erquicken
vermag. – Auch noch jetzt empfinde ich den wohlthuenden
Einfluß jener Zeit – mir gleitet das bunte Spiel des
hiesiegen Lebens vorüber, ohne mich zu verwirren –
allein die stille Wehmuth der Erinnerung ist hier
für mich mit einer ganz unbeschreiblichen Sehnsucht
verbunden u ich möchte eben so gerne sterben als mit
der Gewißheit immer hier bleiben zu sollen, leben.
Wenn Gott will seh ich mein liebes deutsches Vater-
land im künftigen Jahre wieder u dann wird
mir die Erinnerung der hier verlebten Zeit zu
einer schätzbaren Bereicherung meines geistigen
Lebens werden. Meine Zukunft ist noch sehr un-
entschieden – aber in mir lebt eine stille Zuversicht,
daß sie freundlicher werden wird, als es meine
Vergangenheit war. Vieles scheint sich zu vereinen
mir Berlin als den Ort zu bezeichnen, wo ich nach
meiner Rückkehr nach Deutschland leben werde;
alleine ich habe der Hofnung nicht entsagt künftig
in Hamburg oder doch in der Nähe von Hamburg

Seite „20r“

zu leben u dann, Theuerste, hoffe ich, daß die achtungsvolle
zutrauliche Neigung die mich zu Ihnen zieht, Ihr Wohl-
wollen für mich fester begründen u wir noch manche
recht gemüthliche Stunde mit einander verleben werden.
Vergessen Sie Beide mich nur auch nicht bis dahin – ich bin
Ihnen ehrlich u herzlich gut u ich ändre mich auch darin
nicht. Was ich einmal lieb habe, das behalte ich lieb,
so lange als ich lebe. – Sollen Sie sich einmal angeregt
finden mir zu schreiben, liebste Rosa Maria, so würde
ich mich unbeschreiblich zu einem Briefe von Ihnen freuen.
Es würde ein wahrer Festtag für mich werden, wenn
ich ihn erhielte. – Meine Adresse ist die gewöhnliche,
abzugeben bei Herrn G. Hänschel in Petersburg – auch
würde ich Ihren Brief sicher erhalten, wenn Sie ihn
meiner Freundin Goddeffroÿ zur Besorgung senden
[woll]ten – Könnte ich doch etwas thun oder ersinnen, me[in]
[And]enken beÿ Ihnen lebendig zu erhalten! ich möch[te]
auch gar zu ungern von Ihnen u Ihrem Mann vergessen
seÿn. Sie sind beide so lieb u so gut –
Leben Sie denn wohl, meine liebe theure Freundin – Gott
erhalte Ihnen Ihr schönes Glück recht ungetrübt u un-
gestört u schenke Ihnen alles, wodurch es erhöht und
verschönert werden kann, wenn es anders noch eines
Zusatzes fähig ist. – Ich reiche Ihnen beiden über dies
Blatt hier die Hand u bitte noch einmal herzlich: Vergessen
Sie meiner nicht. – Ich gedenke Ihrer oft mit eben
so wahrer als liebevoller Hochachtung.

Ihre
Fannÿ.

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An
Frau Doctorin Assing
In der Marienstraße
in
Hamburg
Nebst 1000 herzlichen Grüßen
von Minna. Auf frohes
gesegnetes Wiedersehen!
Hofentlich in wenig Tagen.