DE | EN

Brief von Amalia Schoppe an David Assur Assing

Hamburg, 27. Oktober 1830
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 230 Schoppe Amalia, Bl. 16 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Amalia Schoppe
Empfänger/-in
David Assur Assing
Datierung
27. Oktober 1830
Absendeort
Hamburg
Empfangsort
Hamburg
Umfang
1 Blatt
Abmessungen
Breite: 195 mm; Höhe: 240 mm
Foliierung
Foliierung mit Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Paweł Zarychta; Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Erstdruck: Thomsen, S. 313–314.

Seite „16r“

16

Assing
Theurer Freund!

Die Mémoires von St. Simon
habe ich – 8 oder 10 Bände – von Louise Nolte ge-
habt; doch wird der Bruder wissen, woher sie sie nahm; sollten sie aber nicht
in der Stadtbibliothek auch sein? Dr Nolte wohnt bis Martinÿ noch in
seinem alten Hause, zieht dann aber, wie ich meine, aus. Die Mémoires
fand ich so interessant, daß ich sie schon zwei Mal las; ob sie sich aber zum
Vorlesen eignen, weiß ich nicht.
Heute hat Carl Abschied vom bot. Garten, Lehmann u Ohlendorff genommen,
u Sonntag denke ich ihn selbst zu Schiff mit Sack u Pack zu Booth zu brin-
gen. Die Sache hat für ein Mutterherz etwas sehr Wichtiges u Rührendes,
wie jeder entscheidende Schritt der Kinder. Lehmann war sehr artig,
und noch feiner als artig; er sperrte sich zu Anfang, gab dann aber
sehr gefällig nach und will nun gar den Knaben einen Schein des
Fleißes u Wohlverhaltens ausstellen, was mich ja ganz zufrieden
stellen muß. Gottlob! daß Alles so gut ging und sich mit solchem
Anstande ausgleichen ließ!
Alle Briefe zeige ich Ihnen und hebe sie natürlich sorgfältig auf; der
von Lehmann ist sogar für Carl’s Zukunft wichtig, indem er ehrenvoll
für ihn ist. Gott schenkt mir für viele überstandene Leiden reiche
Freude an meinen an Leib und Seele gesunden Kindern; ihre Gesin-
nungen lassen keinen Wunsch übrig u was die äußre Form betrifft, so
wird das Leben sie auch schon ründen. Kann doch aus dem Marmor-
klotz eine schöne Statue werden!
Ein Mutterherz ist doch ein seltsam bewegtes Ding. Oft kommen mir die
Thränen über ein gutes Wort, eine flüchtig ausgesprochene reine und
edle Gesinnung in die Augen; und die Kinder ahnen es in ihrer Un-
schuld u Unbefangenheit gar nicht, was sie geben.
Meine neue Wohnung gefällt mir mit jedem Tage mehr; ich bin schon
ganz heimisch darin und die Stille thut mir wohl. Caroline, die ge-
stern mit ihrem Kinde bei mir war, war gleichfalls entzückt von
der unübertrefflichen Aussicht und der Nettigkeit, Helle und Be-
quemlichkeit des Hauses. In meinem Bette sehe ich die Sonne auf-
gehn und kann mein Morgengebet in ihrem goldnen Strahl verrichten.
Die Natur ist immer ein Segen; eine so großartige und schöne
aber auch noch ein Glück. Weite Aussicht ist mir, der Oceange-
bornen, ein unabweisbares Bedürfniß; ich werde traurig, wenn
mein Blick beschränkt ist. Hier nun kann ich sehen, so weit das
Auge es erlaubt.

Seite „16v“

Die Sehnsucht, Ihnen mein Thal zu zeigen, bevor die letzte Herbstsonne verglüht,
ist fast unbezwinglich, und so bitte ich Sie, wenn Rosa sich nicht entschließen
kann, den ersten schönen Tag mit den Kindern zu kommen. Zu essen sol-
len Sie jede Stunde finden, und was Sie nur mögen.
Sonntag bin ich um 9 ½ Uhr nach Steinbeck, mit allen drei Knaben, gegan-
gen; um 11 ½ Uhr waren wir dort, und die schöne Tour durch ganz Bill-
wärder
bot uns reichen Genuß. Um 4 ½ gingen wir wieder von dort
weg und waren frisch und munter nach einem Marsch von 4 Stunden
wieder hier. Ich danke Gott, daß ich so gehen kann und gehen mag.
Wenn Sie auf dem Deich sind, so gehen Sie nur immer fort, bis
Sie eine Windmühle rechter Hand erblicken; mein Haus liegt etwa
20 Schritte davor u hat eine grüne Hausthür; gewöhnlich macht auch
Pollÿ den Portier. Caroline, die eigentlich vermöge ihrer Corpulenz
zu den Immobilien gehört, hatte eine Stunde weniger 5 Minuten
von ihrem Hause gebraucht; darin kommen Sie auch her. Auf dem
Walle ist es angenehmer, aber auch weiter. Wollen Sie eine
Droschke d’ran wenden, so muß die etwas über Tivolÿ in Grimms
(jetzt Nagels) Weg, beim Besenbinderhof hineinfahren; von dort
gelangen Sie auf den Billwärder-Deich durch die schönste Allee;
ich glaube, daß Sie so auch am nächsten gehen werden. Nur
das Erstemal, wegen des Harrens und Suchens, wird Ihnen der
Weg lang werden, nachher gar nicht mehr.

Nächstens komme ich wieder u bitte um ein Nachtquartier, vorzüglich
aber um ein freundliches Gesicht.

Rosa ist zärtlichst gegrüßt, so auch die lieben Kinder: mögen
sie mich treu im Herzen behalten!

Gottes Segen auch mit Ihnen, theurer, lieber Freund! und wenn ich
mit Ihnen sage, heißt das, mit allen den Ihrigen, denn für uns
allein giebt es wohl kein Glück mehr.

Ihre treue

Amalia.


Billwärder Deich d. 27t 8br 1830.