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Brief von Amalie von Helvig an Bettine von Arnim

Berlin, 20.–22. Juli 1819
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 84 Helvig Amalie von, Bl. 8-9 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Amalie von Helvig
Empfänger/-in
Bettina von Arnim
Datierung
20.-22. Juli 1819
Absendeort
Berlin
Empfangsort
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 205 mm; Höhe: 245 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Agnieszka Sowa; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

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[Karl August Varnhagen]Amalie von Helvig
geb. von Imhoff.
Berlin den 20ten July 1819

Ich habe es recht lange auf und im Herzen gehabt Ihnen zu antworten,
liebe Bettine, denn es gab allerleÿ was ich Ihnen zu sagen wünschte,
allein die entsetzliche Hitze hat mich so abgemattet, daß ich meine
Gedanken ganz ausgetroknet fühlte wie eines feuchten Baches Bette –
die Gewohnheit, welche uns alle beherrscht, und die Ungeduld einige
Dinge fertig zu haben die mir schon lange da stehn, hielten mich an
der Staffeleÿ in den wenigen Stunden wo ich aufrecht leben konnte.
So ists gekommen daß von Tag zu Tag mein herzlicher Wunsch mit
Ihnen ein Stündchen zu verplaudern verschoben und hinausgerückt wor-
den – Sie haben mir solche Unregelmäßigkeiten im Voraus erlaubt,
und da ich gewiß wenigstens eben so viel entbehrt, indem ich Ihnen
nur stumm in meinem Herzen, und wie oft! – gedenken mußte,
so rechne ich auf Ihre Verzeihung.
Ich fange nur gleich damit an Ihren Scherz oder Ernst damit zu beantworten
daß ich Sie versichre daß ich nicht guter Hoffnung bin, und Ihnen Liebe,
die Sie noch auf so vielfache Art hoffen dürfen, auch dieses Dépar-
tement
der Hoffnungs Angelegenheiten gern ganz allein überlasse.
Ich habe mich nur so in mein stilles Leben eingesponnen daß ich nichts
recht ferner kenne ohne hundert kleine Fäden zu zerreißen die zu meiner
Existenz nothwendig so bleiben müssen, um mir einige Ruhe und Stille zu
verschaffen. Helvig hat seine Dora so lieb und sonst so wenig Freude, daß
es mir fast unerlaubt scheint ihm diese zu rauben. Er hält mich nicht, er
treibt mich vielmehr fort, allein so oft muß man nur seiner eignen Überzeu-
gung folgen. – Wenn ich falsch wäre, könnte ich allenfalls anführen daß Ihr
lieber Arnimm mich mit keinem Worte eingeladen u als ich ihm zulezt beÿ
Savignis’ scherzhaft diesen Vorwurf machte, nur ausweichend darauf antwortete.
Allein ich weis wohl daß er mich dulden würde wenn ich käme, nur daß
beÿm stillen Landleben wohl eigentlich noch mehr dazu gehört um es behaglich zu
machen, wenn wenige Menschen so nahe beÿsammen und aufeinander beschränkt

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sind – hierin bin ich wahrhaft einem Tantalus zu vergleichen daß ich von mehreren
Seiten aufs Land, aber immer nur aufrichtig von der einen Partie eingeladen
bin und meinem sonst ziemlich zahmen Stolz muß ich doch hierin nachgeben
daß ich ihm nicht so gegen seinen steifen Sinn handle. Ich weiß wohl daß Sie
mir geradezu alle Genialität absprechen weil ich so viel mache, doch kann
ich es einmal nicht anders und mit gutem Gewissen der tiefsten Wahrhaftigkeit,
kann ich Ihnen versichern: daß ich es eigentlich nur thue um lebendig bleiben
zu können. Ich mögte so gern thun wie andere die guten Stunden ruhig weilend
einschlürfen, mich wiegen im weichen Elemente des Daseÿns – allein in jeder
mühsammen Lage ist das Gerade halten noch besser als sich auf den Dornen auszu-
streken und jeden ihrer Stacheln langsam eindrüken zu lassen. So eile ich denn
über den brennenden Sand dieser Lebenswüste so rasch als möglich hinweg,
und darf mir keine Zeit geben umherzuschaun. So muß ich auch noch einiges
vollenden was ich mir zu beseitigen vorgenommen, dann könnte vielleicht der Herbst
freundlichere Tage bringen. Jetzt ist unser alter Herr aus Weimar im Carlsbaade,
da sieht es in Weimar öde aus – mit Seppt. wird wohl alles ins Geleit kommen
und so wäre es vielleicht möglich und angenehm daß ich dahin eine kleine Reise
machte, wobeÿ Sie liebe Bettine auch seÿn könnten. Wenn die Zeit heranrükt
so wollen wir mehr darüber sprechen oder schreiben. Ich weis nicht ob Arnim das
Quartier noch für Sie erhalten welches er wünschte – für Sie hoffe ich es herzlich
und nach einer kleinen Erholung im alten Lande der Poesie könnten Sie mit
erheitertem Sinn das Land der Prosa wieder sehn – wo man sich einbildet poetisch
zu seÿn. Mir kann manchmal angst werden wenn ich bedenke wie Sie liebe
Bettine die menschlichen Verhältnisse, das was man eben so Freundschafft, Zutrauen
und Verehrung nennt, so beÿm Wort nehmen, weil ich die tausend Enttäu-
schungen voraus zu sehen glaube welche Sie noch verletzen werden. Ich bin leider
nur so viel weiter als Sie daß ich nichts mehr erwarte, aber wenn ich die Bestä-
tigung dieser traurigen Resignation vor meinen Händen finde und greifen muß, so
zieht sich mir das Herz eben doch wieder krammpfhaft zusammen wie das erstemal
als ich vor Augen sehen mußte daß diejenigen welche ich hochhielt – elende
Menschen waren. Ob ich mich jemals in irgend eines Sterblichen Augen auch so
miserabel ausgenommen? – Ich darf fast antworten nie! – aber das ist eben
doch kein milderndes Heftpflaster auf die Wunde, ehr ein ziehendes.

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den 22 ten July.
Daß die Guitarre an der Wand hängt ist gar nicht recht, damit könnten Sie Ihre Kläng
Welt mit ihren 12hundert Schaafen um sich zaubern wie Tamino und fast dieß auch
tanzen lassen.
Die Knaben können doch unmöglich 18 Stunden herumtreiben, und
so lieblich wie sie sind würde eine anmuthige Wechselwirkung zwischen Ihnen
entstehn durch das volkstümliche Lied wie Sie es herrlich u jedem Schäfer und
Kind verständlich vortragen. Görres Mythengeschichte
will ich mir auch schaffen
damit ich sie verstehe wenn Sie noch gerne darin leben – jetzt lese ich Kephalides
Reise durch Italien und Sicilien
und habe gestern mit ihm alle Tempel in Girgent

und Seliunt
besucht und bin über die üppich verwachsnen Trümmer der Riesen
seulen herumgestiegen. Es ist sehr lebendig geschildert und läßt der Phantasie
gerade so freÿen Spielraum als sie braucht um sich selbstthätig himmlische
Gebilde auszumahlen. Wenn Sie so viel auf ein mal lesen liebe Bettine
muß ich Sie schon nach Philister Art tadeln – und allerdings bewundern, da
mein armer Kopf nicht dergleichen Experimente verträgt. Aber aufrichtig gesagt
halte ich es auch für den Klügsten nicht gerathen die Eindrüke, Belehrungen, Anschauungen
und Genüsse so zu zersplittern. Dieses wilde Lesen bringt ohnfehlbar immer
gerade die schlimmste Langeweile, weil dieß eigentlich daraus entsteht wenn, daß
wir kein Bild fest in unsrer Seele bewahren können; denn warum hätte man
sonst so gar keine Langeweile wenn man recht aus voller Seele verliebt ist? – 
Wir können nicht immer glücklich seÿn, aber wir dürfen von rechtswegen niemals
Langeweile haben, und wenn wir es recht anfangen und ernstlich wollen, so
haben wir es auch nicht. Wenn wir älter werden, liebe Bettine, und ernstliche Sorgen,
wehmuthige Erinnerungen sich unsres Geistes zu bemächtingen drohn, so bald er
müssig – einen Eindruck von außen erweckt; dann müssen wir, nach meinem
Gefühl in sehr bestimmten Interessen oder Studien, kurz wie Sie es immer selbst
nennen wollen was ich unter einer zusammenhängenden Beschäftigung ver-
stehe – die feindseligen Geister bekämpfen, welche die Jugend nicht zu be-
fürchten hat und deshalb auch ungestraft von einer Blüthe geistigen Genusses
zur andern schwimmen darf – Erwartung, Freude lebhafte Neigung, sichern
dort schon im Voraus vor dem wüsten Gefühl confuser Leere.
Sie zeichnen sich mit Ihrem hübschen Haar und der freÿen Stirne so geflissentlich und
wahrhaft frevelhaft reizlos, als ob Sie alle Jugend zum Fenster hinaus werfen
wollten und doch können Sie, gerade wo es Noth thut, innerlich, dem reifenden
Alter nicht seine stille feste Stätte bereiten. Noch lange werden Sie aus Ihren
schönen Augen jugendliche Funken in die Seelen Ihrer Freunde werfen, wenn Sie

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von dem Übel heimlich beschlichen was beÿ Ihresgleichen zuerst von einem anfängt, das
Unbehagen des Geistes schon empfinden, der so vieles erlebt und durchdacht hat daß er
Gefahr läuft am allgemeinen Ekel zu erstiken, wenn er nicht an bestimmter Neigung
und höherer Entwiklung sich zu höchstem Leben vollendet.
Ich sollte dergleichen Redensarten eigentlich ganz gegen Sie bleiben lassen da ich so gar
unphilosophisch bin und mit miserabler Empirie immer nur kommen kann, wie
eben ein ehrlicher Arzt der in einem Lazarette mit vollen Händen arbeitend, seit
50 Jahren nicht Zeit gehabt sich danach umzusehn was die Menschen sagen blos weil
er dahin schon wußte was sie thun. An der Krankheit meines eigenen Lebens, so
wie gelegentlich an den Beulen Wunden und Geschwüren so vieler Lieben die das scharfe
Ding was man Daseÿn nennt tödlich verletzt, habe ich ehrlich experimentirt und wie
nicht radicale Heilungsmethoden, doch recht milde Salben und kühlende Pulver
vielfältig glüklich angewandt –. Wenn sich daher jemand gelehrt gegen den armen
Kranken hinstellt und sehr weise über allgemeine Principien spricht, so gehe ich still
meiner Wege, sehe ich aber ein geliebtes und schönes Leben irgend feindlich angegriffen
so komme ich in aller Dummheit mit meinem Wundbalsam hervor, und hilft er nicht
so wie ich ihn bieten kann, so ist es doch recht herzlich gut gemeÿnt.
Ich habe seitdem Tiek hier gesehn der mir, so von weitem wie wir uns begegnet
recht wohl gefallen. Er hat ein schönes Gesicht – Gneisenau zieht (und zwar mit Recht)
Ihres Bruders Clemens vorlesen dem seinigen vor, Clemens erschafft recht eigentlich
das Werk unter seinen Händen, es ist von ihm so wie ers giebt. Tiek stellt ein würdiges
Werk (beÿ mir las er Heinrich IV.
) als ein Ganzes, so hin daß der Dichter, hörte er es,
sich erst recht freuen müßte; so schön gedacht zu haben. Eben donnert es, zu meiner
großen Freue, da ich an der Hitze schon recht krank gewesen bin – An unserm politi-
schen Horizont brummt es auch gewaltig – Wolle Gott daß es nur Luft seÿ!
Wir Frauen sind doch drin recht glücklich; daß wir alle unsre Dummheiten so im
stillen machen und das Collegium der Lebens Klugheit privatim hören – da hin-
gegen den Männern die Eselohren immer sichtbar wachsen.
Von Ihren Bekannten sah ich Schinkel letzten Montag beÿ Kolbe, der gewaltig am Conzert Saale

mahlt, auch Berger war dort; Sophie Reichardt sprach ich Vorgestern beÿ Solger – Klausewitzes
sind nach Erdmannsdorff
abgereist. Ottilie Gneisenau und Mdlle Gruner werden auch
wohl bald dahin abgehn. Mein Schwede
reist nächsten Monat – ich hätte Sie gern
zusammen gesehn, denn er hat einen wahrhaft philosophierenden Kopf, recht ein harter Stein
um mit Ihrem Stahl helle Funken draus zu schlagen. Mir ist er zu gescheut und fast mögte
ich hinzusagen zu tugendhaft geworden – Was soll denn aus diesen alten Jünglingen wer-
den die nicht einmal mehr Überfluß des Lebens Geistes haben um einen dummen Streich
zu machen? – Sie fangen wie Greise an – werden sie nicht als Kinder enden.
Leben Sie nun wohl beste Bettine! – Helvig grüßt freundlichst. Die Bardeleben ist längst in
Neustadt – schreiben Sie mir bald was Sie machen, grüßen Sie auch Arnimm aufs Beste. Die
Kinder
küsse ich besonders das liebe Mädchen, weil es der Mutter noch recht viele Freude machen wird.

Ihre Amalie v Imhoff.