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Weimar

Friedrich Preller d. Ä.: Einzug der Maria Pawlowna von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Großfürstin von Russland, in das Weimarer Schloss (1849). Öl auf Leinwand, 34,7 x 45,5 cm (Klassik Stiftung Weimar [Inv.-Nr. G969]).

Die kulturelle Blüte, mit der Weimar in den Jahrzehnten um 1800 weit über seine bescheidenen geopolitischen Verhältnisse hinaus Bekanntheit und Bedeutung erlangt, nimmt ihren Ausgang in der Kunstliebe der aus Wolfenbüttel stammenden Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar und Eisenach. In den Jahrzehnten, die ihrer Regentschaft folgen, wird eine bemerkenswerte Reihe wichtiger weiblicher Akteure im literarischen Feld auftreten, die aus Weimar stammen oder dort vorübergehend bzw. auf Dauer sesshaft sind. Mit dem lokal und historisch limitierenden Label ‚Weimarer Klassik‘ wird man indes der vielfältigen Kreativität und Produktivität dieser Autorinnen allenfalls partiell gerecht, wenn auch einige von ihnen durchaus an der von vielerlei Agenten, Instanzen und Individuen getragenen Herstellung dessen, was die Literaturgeschichte später so bezeichnen sollte, beteiligt sind: u. a. als Dichterinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen oder Instrumentalistinnen, Illustratorinnen, Kunsthandwerkerinnen und Textilkünstlerinnen. Durchaus ohne deren ästhetisches Gewicht überzubewerten lässt sich treffender wohl der zuerst von Christoph Martin Wieland geprägte, später von Goethe erneut ins Spiel gebrachte Begriff der Weltliteratur heranziehen, um die Teilhabe Weimarer Autorinnen am kulturellen Leben der Zeit zwischen 1800 und 1860 zu charakterisieren. In der Übersetzungstätigkeit wird diese weltliterarische Partizipation besonders deutlich (namentlich, wenn man das Lebens- und Tätigkeitsfeld der Autorinnen auf das soziokulturelle Integral des ‚Ereignisraums‘ Weimar–Jena ausdehnt), ohne sich freilich darin vollständig zu erschöpfen: Sophie von Schardt übersetzt Shakespeare und Byron, Charlotte von Stein überträgt Rousseau und Voltaire, die in Jena tätige Schriftstellerin und Musikerin Louise Marezoll veröffentlicht deutsche Fassungen von Werken Maria Edgeworths und Jane Austens, die ebenfalls in Jena lebende Henriette Schubart tritt mit Übersetzungen Walter Scotts, Herman Melvilles und Washington Irvings hervor – die Reihe ließe sich, einschließlich der nicht-publizierten, nur handschriftlich überlieferten Übersetzungen, lange fortsetzen.

Von den acht für das Projekt ausgewählten Schriftstellerinnen wachsen drei, Charlotte von Ahlefeld, geb. von Seebach, Amalie von Helvig, geb. von Imhoff, und Amalie von Voigt, geb. Ludecus, in oder um Weimar auf, beteiligen sich an den dort gepflegten Geselligkeitsformaten und tragen zur inneren Ausformung der kunstzentrierten Lebensform sowie zu deren Anschlussfähigkeit im überregionalen Kontext bei. Indes verbringt einzig Amalie von Voigt auch den Hauptteil ihres Lebens in Weimar. Helvig, die wichtige Übersetzungen aus dem Schwedischen verfertigt, lebt zeitweise in Stockholm, später in Berlin; Ahlefeld wird zwar noch von Herder in Weimar getraut, lebt dann aber in ihrer Ehe mit Johann Rudolf von Ahlefeld und auch nach der Trennung von ihrem Mann in dem zu Dänemark gehörenden Herzogtum Schleswig, ehe sie 1821 nach Weimar zurückkehrt.

Vor dem Hintergrund der die ersten Jahrzehnte nach 1800 anhaltenden Dominanz des kulturellen Paradigmas ‚Weimar‘ kann die unterschiedliche, sich im Laufe der Zeit verschiebende Intensität der Weimar-Beziehungen aller im Projekt erforschten Schriftstellerinnen auch als Folge und Ausdruck ihrer jeweiligen Positionierung im literarischen Feld verstanden werden. Die gesellschaftlich und ästhetisch konservativeren unter ihnen wie Charlotte von Ahlefeld oder Fanny Tarnow sind stärker geneigt, in schwierigen Situationen ihre Beziehungen zu Weimar zu aktivieren als die progressiveren wie Amalie Schoppe. Freilich ändert sich zugleich im Laufe der Jahre die Ausstrahlungskraft Weimars; genauer gesagt: Das Spektrum dieser Ausstrahlung verschiebt sich in die dunkleren Register der Vergangenheitsverklärung angesichts der „Endschaft“ der „goetheschen Kunstperiode“, wie sie Heinrich Heine in der „Romantischen Schule“ konstatiert. Die Briefe, die der kaiserlich-russische Diplomat Apollonius von Maltitz aus Weimar an Helmina von Chézy schreibt, sind ein beredtes Zeugnis dieser Nostalgie. Zugleich aber formuliert Franz Liszt, seit 1848 Leiter des großherzoglichen Musiktheaters und der Hofkapelle, in seiner Schrift „Zur Goethe-Stiftung in Weimar“ (1849) bereits das Programm einer neuen Blütezeit, an dessen beginnender Ausgestaltung die Projekt-Autorinnen, sofern noch am Leben, jedoch nicht mehr beteiligt sind. Die Tatsache aber, dass die von Karl August Varnhagen von Ense und Ludmilla Assing bereits seit Beginn der 1840er Jahre angelegte Autographensammlung nicht denkbar ist ohne den Bezug zu Goethes Weimar, macht im Rahmen einer „Praxeologie des Briefsammelns“ (Konrad Heumann) dann doch die Annahme plausibel, dass den aus allen Himmelsrichtungen zusammengetragenen Briefen der Sammlung Varnhagen auch eine klandestine Weimar-Adressierung zweiter Ordnung eingeschrieben ist.

Jörg Paulus
Friedrich Preller d. Ä.: Einzug der Maria Pawlowna von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. Großfürstin von Russland, in das Weimarer Schloss (1849). Öl auf Leinwand, 34,7 x 45,5 cm (Klassik Stiftung Weimar [Inv.-Nr. G969]).

Literatur

Stefanie Freyer, Katrin Horn und Nicole Grochowina (Hrsg.):
FrauenGestalten Weimar–Jena um 1800. Ein bio-bibliographisches Lexikon.
Heidelberg 2009.

Heinrich Heine:
„Die Romantische Schule“. In: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Düsseldorfer Heine-Ausgabe). Bd. 8/1. Hrsg. von Manfred Windfuhr.
Hamburg 1973–1997.

Konrad Heumann:
„Der Brief als Sammlungsobjekt“. In: Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Bd. 1: Interdisziplinarität – Systematische Perspektiven – Briefgenres. Hrsg. von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, Jörg Schuster, Gesa Steinbrink und Jochen Strobel.
Berlin/Boston 2020, S. 232–253.