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Brief von Amalie Struve an Helmina von Chézy

Liverpool, 10. April 1851
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 240 Struve Amalie, 10.04.1851 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Amalie Struve
Empfänger/-in
Helmina von Chézy
Datierung
10. April 1851
Absendeort
Liverpool
Empfangsort
Vevey
Umfang
3 Blätter
Abmessungen
Breite: 111 mm; Höhe: 176 mm
Foliierung
Foliierung durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków noch ausstehend.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Betty Brux-Pinkwart; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „1r“

[Karl August Varnhagen]Amalia Struve
an Fr. v. Chézy.
Liverpool d. 10. April 1851.
Emigrant’s Home, 28, Moorfields’.

Theure Freundin! Ich habe mich nicht
getäuscht in Dir. Du denkst immer noch meiner
in Liebe! Dein Brief kam gestern hier an.
Wie verlassen schon morgen Europa. Mit dem
Segelschiffe Roscius werden wir in die See
stechen. Das Wetter ist herrlich. Möge es
ein günstiges Vorzeichen für unsere Zukunft
sein!
Das „Mérite des femmes“
habe ich nicht er-
halten. Ich würde sehr glücklich sein wenn
Du mir das Buch nach Newyork nachsenden
wolltest. Unsere Adresse wird sein unter
Couvert: „W. Fassert; 17, North Williamstr.
Newyork America.“ Auch die Zeitungen von
welchen Du sprichst sende uns dahin nach.–
Es schmerzte uns Beide sehr zu erfahren daß
es Dir in jeglicher Hinsicht so übel in der
Schweiz ergeht. Hast Du dort keine Freunde
gefunden die sich Deiner annehmen dürften
liebe Freundin? Ich würde Dir rathen
nach Amerika zu kommen u. in unserer
Nähe zu leben. Die Reise würde Dir
gewiß nicht schaden. An uns hast Du
treue Freunde die für Dich Alles thun
was in ihren Kräften steht. Wie, Dein
eigener Sohn
war es der veranlaßte
daß Dir Documente u. Papiere
entwendet wurden?! Ist es denn
möglich! – –
Mit dem Taschenbuch
müssen

wir wohl noch warten. Die Verleger i.
Deutschland scheinen wenig Lust zu
haben neue Sachen v. uns zu nehmen.
Also auf bessere Zeiten geharrt!

Seite „1v“

In Amerika denke ich meine neuesten
kleinen Novellen wie: „Das Kind des
Freiherrn“
(aus meinem Leben) meiner
armen seligen Mutter
gewidmet,

u. „Die Zitherschlägerin“ drucken zu
lassen.
Wie kann ich aber Dir
Exemplare davon zukommen lassen?
In Bremen wurden voriges Jahr
Gedenkblätter von G. u. A. Struve
vom demokratischen Verein dort
herausgegeben.
Wir haben selbst
kein Exemplar davon. Es sind zwei Artikel. 1) Das badische Volk von G. Str.
2) Träume v.
A. Str. Ich glaube es würde
Dich dies Schriftchen interessiren.
Lass’ es Dir kommen aus Bremen
durch den Buchhändler Schlodtmann
daselbst. – Von Buchhändler Wester-
mann
in Newyork kannst Du
das „Kind des Freiherrn“ seiner
Zeit erhalten. Oder sage mir
einen Weg wie ich es an Dich
senden könnte.
Daß Deine Gesundheit so an-
gegriffen ist, und Dein Gemüth
leidet, schmerzt uns tief.
Reiße Dich heraus aus diesem
Leben u. beginne ein neues!
rufe ich Dir zu. Komm nach
dem Westen!

Seite „2r“

Ich hoffe in Newyork einen Brief von
Dir zu finden der mir sagt daß Du
wieder gesund und bei heiterer
Laune bist. Ich sehne mich so sehr
nach einer Zeile von Dir und erwarte
mit so großer Sehnsucht Deine lieben
Briefe. –
Suche Du, Liebe, einen Verleger
zu finden für das Taschenbuch.

Suche womöglich i. Deutschland
Einen. z
Wenn Du „Das Kind des
Freiherrn“ liesest, denke daß die
arme Rosalie Minte m. Mutter
ist Ich wünsche s. Z. Dein
Urtheil über diesen Roman zu
haben. –
So eben hören wir daß wir hier in
Liverpool polizeilich streng von der englischen Polizei überwacht
sind u. daß Spione des preußischen u.
österrch: Gesandten hier sind welche sich
eifrig nach dem Tage unserer Abfahrt
erkundigen – – – Wir hören, es sollen
Spione auf’s Schiff kommen.
Das Bankett der Deutschen in
London am 13 März war großartig.

Str’s Rede u. ein Artikel von ihm
stand in der „Deutschen Dorfzeitung von
Coburg“.
Ein excellenetes Blatt!
Ein Artikel v. mir über das
Fest erschien in der „Freien Zeitung
in Wiesbaden“ vom 22 März
.

Seite „2v“

4

Es war ein Fest wie noch keines in
der Verbannung gefeiert worden ist.
Mazzini verbrüderte sich u. das
italiänische Volk, das er vertrat,
mit den versammelten Deutschen.
Kinkel sprach voll glühender Begeisterung
über die Märtyrer von Arad,
Wien, Dresden, Rastatt, Mannheim,
Freiburg, übe[r] die Kerkerleiden
der Gefangenen im Vaterland
und über die Schmerzen des
Verbannten. Sein schönes,
dunkles Auge leuchtete als er
sprach: seine Gestalt hob sich höher,
alle Blicke hingen an seinem
edlen Angesicht! – Wir waren
viel mit ihm u. s. Frau zusammen.
Es sind vortreffliche Menschen!
– – – – –
Ach, Liebe, mein alter
Vater wünschte so sehr uns nach
Newyork zu folgen. Ich kann ihm
nicht Mittel dazu geben, und er
stirbt mir hin unter dem Schmerz,
der Trauer und dem despotischen
Drucke im armen Badenerlande.
Er liegt stundenlang auf meiner
Mutter
Grab u. härmt sich zu
Tode u. ich kann nicht helfen!
Wenn Du könntest, wie glücklich
würdest Du mich, uns machen!
Wie wollte ich Dich lieben
dafür u. auf den Händen tragen!
Gustav grüßt Dich von ganzem Herzen und
empfiehlt Dir, gleichwie ich, den alten Vater!

Seite „3r“

5

Wenn Du mir für meines Vaters Über-
fahrt ein Anleihen machen könntest,
wollte ich mich verpflichten es Dir
treulich aus Amerika nach einiger
Zeit wieder zurück zu senden. Dort
wird es uns sicher besser ergehen.
G. denkt Vorträge zu halten und die
Freunde in Amerika versichern uns
daß diese einen glänzenden Erfolg
haben werden. Str’s Weltgeschichte

hat einen Verleger in Amerika
gefunden. Für meine Novellen
habe ich Einen solchen in Aussicht.
Wenn Du mir nun aushelfen
könntest jetzt, daß mein alter
Vater so schnell als möglich nach
Newyork eilen könnte, so daß ich den
greisen Mann (er ist 74 Jahre) noch
vor seinem Tode sehen dürfte, was
vielleicht später (vielleicht in wenigen
Monaten wenn ich ihm Geld dazu
senden kann aus Amerika)
unmöglich sein wird. Wenn
Du kannst, mache mir diese
Anleihe und schicke das Geld
direct an „H Dusar. F. 5.
No 16 i. Mannheim. Baden.“
Auf ewig würdest Du
uns verpflichten, könntest Du ihm,
unserem geliebten Vater es
möglich machen seine Kinder
wiederzusehen. Ich spreche

Seite „3v“

offen zu Dir. Kannst Du
Etwas dafür thun?
kannst Du ein Anleihen machen?
Ich bürge für die Zahlung.
Ich werde s. Z. in Amerika
das erste Geld daß ich oder das mein
Gatte
erwirbt zu der Zahlung
verwenden. Du wirst mir
glauben?!
Meine Freundin, von dem
Schmerze den mein guter Gustav und
ich empfinden bei dem Herannahen
des verhängnißvollen Tages an
welchem wir Europa verlassen,
vermag ich Dir nicht zu sprechen.
Er ist gränzenlos. Doch die
Hoffnung belebt uns daß wir
nur auf wenige Jahre den
theuern Boden verlassen, daß wir
zurückkehren werden um wenigstens
so Gott will, die Morgenröthe,
der Völkerfreiheit noch zu begrüßen.
Eine Heimat wird Amerika
uns nimmer werden, aber
wohl eine freundliche Zufluchtsstätte
bis zu jenem Augenblicke da
wir hinüberschiffen werden
in unser liebes Vaterland.
Ade lebewohl, denke
unser! Mit alter Liebe

Deine Amalie Struve.
Nimm meine Offenheit mir ja nicht übel, sondern erwiedere sie.