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Brief von Amalie Struve an Helmina von Chézy

London, 24. März 1851
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 240 Struve Amalie, 24.03.1851 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Amalie Struve
Empfänger/-in
Helmina von Chézy
Datierung
24. März 1851
Absendeort
London
Empfangsort
Vevey
Umfang
3 Blätter
Abmessungen
Breite: 84 mm; Höhe: 131 mm
Foliierung
Foliierung durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków noch ausstehend.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Betty Brux-Pinkwart; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „1r“

[Karl August Varnhagen]Amalia Struve
an Fr. v. Chézy
London den 24 März.
1851. Abends 9½ Uhr.
Liebe Freundin!

Vergebens schrieb ich vielemale
an Dich von London und York
aus. Du hast keine Worte
der Freundschaft für mich gehabt.
Gedenkst Du meiner noch?

Wie geht es mit Deiner Gesundheit?
wie lebst Du in der schönen,
göttlichen Schweiz nahe den Gletschern
und Seen, unter dem blauen
Himmel? Ich hoffe daß Du
wohl bist und Dich heimisch bei
dem trefflichen Volke, in Deinem
lieblichen, bequem eingerichteten
Häuschen fühlst.
Seit ich Dir schrieb hat
manches sich verändert. Wir haben
lange gerungen mit Sorgen und
Noth aller Art. Jetzt können
wir nicht länger hier bleiben
da jeder Erwerb uns fehlt.
Wir müssen nach Amerika.
Daß mein Gustav und ich
mit schmerzzerissenem Herzen
den europäischen Boden
verlassen und über den Ozean
segeln brauche ich Dir nicht zu
sagen. Erst als die Noth ihren
Gipfelpunct erreichte, konnten wir
uns entschließen, – u. so werden Gustav
und ich in 2 – 3 Wochen auf dem Meere
Unsere Adresse ist:
Mrs S. II Bratt Terrace, Great College
Street, Camden town. London.“
Antworte mir gleich!
Gustav grüßt Dich herzlich u. ist besorgt um Deine
Gesundheit.

Seite „1v“

hin und her wogen.
Jetzt sind wir seit anderthalb
Jahren wieder in fremdem
Lande!
Ich hätte letzten Winter
Italien Ungarn u. die Türkei
sehen können, mit einer ungarischen
Freundin
.
Aber ich verlasse meinen
Gustav nimmer. Ich will ihm treue
Stütze sein. Hat er sich doch in
so vielen s. g. Freunden und
Gesinnungsgenossen so bitter
so hart, getäuscht gesehen!
Bin ich ihm doch so nöthig,
sind wir doch nur Eins!
Ich habe neuerdings einen
Roman „Das Kind des Freiherrn“
geschrieben und werde denselben in
Amerika drucken lassen.

Struve schreibt Weltgeschichte
und
Artikel in Zeitungen. –
Am 13 Mai hatten die
Deutschen hier ein schönes Fest.

Es war zur Erinnerung an die
Märzrevolution 1848 – 1849.
Mazzini bot den Deutschen die
Bruderhand i. N. des italiänischen
Volkes, das er vertrat. Str’s
Rede ist in der „deutschen Dorfzeitung
i. Coburg“ abgedruckt, des gleichen ein
Artikel über das Fest von ihm
.

Es wird Dich interessiren diese
Blätter zu lesen.
Mit dem Frauenalmanach ist es
bis jetzt nicht gegangen.
Ich habe aber den

Seite „2r“

Plan nicht aufgegeben, vielleicht ist
Amerika ein günstigeres Feld für
die Veröffentlichung unserer schrift-
stellerischen Arbeiten, als das
geknechtete, arme Vaterland.
Alles was wir in England unternahmen
mißlang!–
Nach dem freien Amerika
denke ich auch meinen alten Vater
kommen zu lassen um ihn dort
durch unsere Liebe und Sorgfalt seine
letzten Lebenstage zu versüßen.
So Gott will wird er nächsten
Sommer schon absegeln. Mein
Bruder Pedro hat seit 3 Monaten
eine sehr gute Anstellung in
Blackheath (ohnweit London erhalten.
Er ist Lehrer der deutschen, frz.
Sprache u. der Mathematik in
einer Militairschule.
Daß ich meine Mutter nicht wieder-
sehen kann, weder in der lieben
Heimat, noch in der jungen Republik
wohin wir schiffen werden, macht
mir die herbsten Schmerzen. Ihr
Tod hat mich schrecklich ergriffen.

Alle Gefahren und Sorgen, das
Gefängniß mit eingeschlossen – Alles
was in langen 5 Jahren ich erlitten
habe, hat mich nicht nieder-
gebeugt, o nein, es hat im
Gegentheile mich immer mehr
gehoben und gekräftigt, aber
der Mutter Tod hat mich
darniedergebeugt, ich bin nicht
mehr was ich gewesen war vorher.

Seite „2v“

„Das Kind der Freiherrn“ habe ich
unmittelbar nach der Mutter Tod
geschrieben.
Dieses Buch ist ihrem
Andenken geweiht. Und die Rosalie
Minte ist ein schwaches Bild der
besten aller Mütter.
Johannes Ronge und Kinkel
sind nun auch hier. Wir sind
viel mit ihnen zusammen.
Kinkel hat sich ein schönes Haus
eingerichtet und wird fürs
Erste hier bleiben. Ronge
ist verheirathet und hat seine
religiösen Vorträge bereits
begonnen. Er hat eine geschiedene
Frau
geheirathet, aus Hamburg.
In England finden sich
keine Sympathien für unsere
politischen Bestrebungen, aber
Ronge findet ein gutes Feld
zu bauen hier vor und geht
rüstig an’s Werk. Wir hoffen,
es werde ihm gelingen, in kurzer
Zeit mehrere Gemeinden in
England zu bilden für die
freie Kirche.
Es thut uns sehr leid liebe,
werthe Freunde wie unsern Mazzini
Kinkel u. Ronge hier zurück-
zulassen und nicht mehr
mit ihnen die geselligen Freuden
theilen zu können, den Gedanken-
austausch vermissen zu müssen
mit ihnen – – Und wirst Du
mir endlich ein Lebenszeichen zu-
gehen lassen, ehe ich Europa
verlasse?! wirst Du mir ein
Lebewohl zurufen? Könnte ich in Deine
Seele schauen! Nach Amerika müssen wir. Freilich wird uns die junge
> Republik nimmer eine Heimat werden. Aber bis zu dem seligen Tage an welchem wir
nach dem theuern Vaterlande wieder hinüberschiffen werden, bis unsere Fahnen
wieder flattern, das Volk die Ketten bricht, – bis dahin finden wir doch in
Amerika eine freundliche Zufluchtsstätte. Lebewohl, denke Deiner Dich
liebenden Amalie Struve

Seite „3r“

via France.
Helmine de Chézy.
Veveÿ
rue du Lac;
à la Poste.
Canton du Vaud.
Switzerland.

Seite „3v“