DE | EN

Brief von Fanny Tarnow an Karl August Varnhagen von Ense

Plauen bei Dresden, 21. Mai 1835
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 85-87 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
21. Mai 1835
Absendeort
Plauen
Empfangsort
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 140 mm; Höhe: 220 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „85r“

85

Fanny Tarnow an Varnhagen.

Plauen,, 21. Mai 1835.

Seite „85v“

Seite „86r“

86

[Karl August Varnhagen]
Fanny Tarnow.
Plauen bei Dresden, den 21. Mai 1835

Plauen bei Dresden den 21sten
Maӱ 35.

Wie haben Sie mich durch Ihren Brief u durch
das unschätzbare, ihn begleitende Geschenk,

überrascht, entzückt, geehrt u gerührt! –
Mein ganzes Herz dankt Ihnen dafür, mein
edler Freund. Der Künstler hat seinem Gebilde
einen Abglanz des reichen geistigen Lebens
unserer Unvergeßlichen zu geben
gewusst; der erste Blick darauf füllte
meine Augen mit Thränen; aber es wird
mir nun von Tag zu Tag lieber und es gehört
zu meinem liebsten, meinem köstlichsten
Besitzthum. Vermochte ich doch es Ihnen
auszusprechen, welchen Werth Ihr Geschenk
für mich hat u wie ich Ihnen mit ganzer
Seele dafür dankbar bin! – ich kann
dies nicht; doch Sie fühlen, daß jedes Wort
was ich über Rahel geschrieben habe, der
Fülle einer wahren Liebe u Verehrung
entquollen ist u ich fühle dagegen, daß die
Wahrheit meiner Empfindung in einer Zeit
wo uns so viel Erlogenes u Gemachtes

Seite „86v“

anwidert, uns miteinander verbindet u Sie
so milde u freundlich gegen mich macht. Welche
Freude würden es für mich sein, wenn ich
Sie in diesem Leben noch einmal sehen u mit
Ihnen von Ihrer Rahel reden können! – Aber
ich habe nur noch Erinnerungen u für
Diesseits keine Hofnungen mehr. –
Bei Neumann’s
, bei Humboldt’s
Tode habe ich
an Sie gedacht. Es ist ein schauerliches Gefühl,
wenn es so einsam um uns wird, u wir empfin-
den, daß wir dem nun aufblühendem Geschlecht
um uns her eigentlich nicht mehr angehören. Liegt
diese Kluft zwischen dem jungen Europa u uns,
nur in meiner individuellen Empfindung, oder ist sie
wirklich da? – Von dem was unsere Jugend so
schön u so reich machte, sehe ich bei diesem neuen
Geschlecht nichts mehr. Sie, lieber Varnhagen,
uebersehen geistig einen unermeßlichen Gesichts-
Kreis; das habe ich recht lebhaft bei Lesung Ihrer
bei Perthes erschienenen, gesammelten Schriften

erkannt, die ich mit unendlicher Freude daran gelesen
habe u die ich mir wochenlangen täglichen Umgang
mit Ihnen ersetzt haben. Eine solche Fülle geistigen
Reichthums, wie er Ihnen zu Theil wurde, müsste,
wie mich dünkt, das Leben eines Methusalem
frisch u lebendig u krӓftig erhalten können;
einer Frau würde er, wenn sie ihn besäße, nicht genü-
gen, weil ein in Gedanken u That gelebtes Leben
uns nicht zu genügen vermag – aber ein Mann,
ein Mann wie Sie, Varnhagen, fähig die Heilig-

Seite „87r“

87

keit des Schmerzes tief u lebenslänglich zu
empfinden – bedarf der von der Welt noch etwas
anders, als sich selbst u seine Erinnerungen?

Ich lebe hier in dem paradiesich schönen Plauen
bei meiner alten 77 jährigen Freundin, der Mutter
des auch Ihnen bekanntem Grafen von Kleist
,
einsame stille Tage, die meinen Geist u Seele er-
quicken. Von mündlicher Mittheilung, von jeddem
Umtausch meiner Empfindungen u Gedenken
haben mich die letzten sechs Jahre meines Lebens
ganz entwöhnt, in denen ich eigentlich nur mit
Büchern, mit der Natur u mit Gott Umgang
gehabt habe. – Eine solche Einsamkeit, mitten
unter Menschen, kräftigt die Seele, weil sie
ist von allen Ansprüchen entwöhnt u gleichsam
vom Tische u Bett der Erde scheidet. – Man hat
die Erde lieb u freuet sich doch so innig auf
den Tod. –

Gott mit Ihnen, theurer Freund. Möge Ihnen
alles werden u bleiben, was Sie zu trösten,
zu erheben, zu erfreuen vermag. –
Fannӱ.

Seite „87v“