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Brief von Fanny Tarnow an Karl August Varnhagen von Ense

Weißenfels, 29. Mai 1833
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 81-82 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
29. Mai 1833
Absendeort
Weißenfels
Empfangsort
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 125 mm; Höhe: 205 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „81r“

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[Karl August Varnhagen]
Fanny Tarnow.
den 29. Mai.
Weissenfels, Im Maÿ 1833.
Ihr Brief, mein verehrter Freund, hat mich tief erschüt-
tert u doch hat er meinem Herzen unendlich wohlgethan.
Die Zeit verbleicht so leicht u schnell die Farben der Er-
innerung, daß ich mich von Ihnen nur ganz vergessen
glauben durfte u daher nicht den Muth hatte, Ihnen
zu schreiben, ob ich mir gleich bewußt war, mein Herz
gebe mir das Recht Ihnen sagen zu dürfen, wie ich
um Ihre verewigte Gattin traure u wie ich das
Andenken an sie ewig als ein Kleinod meines Glaubens
an Menschenwerth ehren u bewahren werde. Ich kenne
keine Frau die ich ihr an Geisteshoheit vergleichen
möchte u wie gut, wie himmlisch gut war sie dabei!
Sie war so ungeheuer gescheit, daß ich oft davor
erschrocken bin, u doch konnte man sie so
herzlich, so zutraulich lieben, weil sie so ein-
fach groß, so bis zur Gutmüthigkeit gut war.
Wie tief, wie hell und klar faßte sie die erha-
bensten Ideen der tiefsinnigsten Denker
auf – es war kein allmähliges Aneinander-
reihen von Schlüssen, keine Langsame Gedan-
kenentwickelung – wie ein Adler erflog ihr
Geist gleich den Gipfel; blitzschnell hatte sie
gleich alles verstanden, alles ergänzt, alles
errathen u dabei war in ihr ein unendlich
seelenvolles u geistreiches Verständniß
menschlicher Zustände; man konnte sicher

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seӱn von ihr auch dann verstanden u erkannt
zu werden, wenn man sich nicht aussprechen
konnte – u dabei diese Wahrheit, diese
hohe Einfachheit der Wahrheit? Wer sie
gekannt hat u nur einigermaßen werth war
sie zu kennen, muß fühlen, daß er nicht hoffen
darf ihres Gleichen auf Erden wieder zu finden;
sie bleibt für alle, die sie geliebt haben, einzig
u unvergleichlich. –- Mein Freund, wie reich muß
Sie das Zusammenleben mit diesem Wesen gemacht
haben! – Welch einen unermeßlichen Schatz
von Erinnerungen muß sie Ihnen hinterlassen haben!
Ich habe mich nie so arm an Worte gefühlt, als jetzt,
wo ich Ihnen so gerne andeuten möchte, wie sie in
mir lebt, wie ich sie erkannt, geehrt, geliebt habe u
wie ich das Andenken an sie in meinem Herzen be-
wahren werde, so lange ich lebe. Sammeln Sie ja alles
was sich zur Mittheilung eignet – geben Sie uns auch die
herrlichen Briefe über Goethe u Jean Paul wieder – unter
ihren Papieren in ihren Briefen müssen sich noch ganze
Goldgruben ihrer köstlichen Gedanken finden, – ich er-
innere mich unter anderen noch eines Traumes, den sie auf-
geschrieben hatte u der mir unvergesslich geblieben
ist, – Wie viel herrliche Worte leben noch in meinem
Gedächtniß! wie viel kleine u doch höchst bedeutende
Züge! Ich habe sie oft mit der Frau v. Stael
verglichen, wenn sie mir so geistfunkelnd erschien –
aber die Ähnlichkeit wie die Unähnlichkeit zwischen
beiden fiel immer zu Rahels Vortheil

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aus. –
Ich kann Ihnen nur wenig Briefe von unserer Verlorenen
senden. Das Schicksal hat mich zu einem unkenntlichen Schat-
tenbilde dessen gemacht, was ich einst war; nur ueber
mein warmes, treues Herz hat es keine Gewalt zu
ueben vermag; geistig war aber mein Daseӱn viele
Jahre lang so farblos, daß ich durchaus den Muth verlor,
in die Theilnahme meiner Freunde irgend einen Anspruch
geltend zu machen; ich wollte es ihnen ersparen Mitleid
mit mir fühlen zu müssen u brach allen Briefwechsel
ab. Dazu kommt noch, daß ich vor mehreren Jahren, als
ich tödtlich krank war, alle Papiere verbrennen ließ,
von denen ich nicht wünschte, daß sie nach meinem Tod, von
fremden Augen gelesen werden sollten. Leider waren
auch darunter mehrere von ihr. – Gerne sende ich
Ihnen die hier beifolgenden, aber mein Eigenthums-
recht daran kann ich nicht aufgeben, ich leihe sie Ihnen
nur, sie müssen mir bleiben, sie sind von zu hohem
Werth für mich. Vielleicht, mein Freund, hat keine
andere Frau Rahel so erkannt, so geliebt, so ihrem
hohen Werthe nach gewürdigt, als ich – daher fühle ich
auch so tief, welcher Theil Ihres Lebens Ihnen mit
ihr verloren gegangen ist u wie dieser Verlust Sie in Sich
selbst zurückdrängt. Ihr gemeinsames Leben war
eine Harmonie, der nun der Grundton abgestorbenen
ist – innerlich hallt ihr ein langes Echo ununter-
brochen nach – aber die Harmonie selbst ist doch
auf immer verstummt. Es ist allzutraurig, daß
Zeit u Leben die Macht haben, den Schmerz eines
solchen Verlustes zu mildern – aber mich dünkt, Sie
müssen Sich noch immer mit ihr vereinigt fühlen –
Rahels Geist, Rahels Seele war mit der Ihren durch
gegenseitige Wechselanspannung, Wechselwirkung

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der Gemühter so verneint, daß keine Trennung
möglich ist u sie noch auf Sie einwirken muß,
als lebten Sie noch in Ihrer Nähe. –
Wie heilig, wie unschätzbar mir die Blätter
seӱn
werden, die Sie zum Vertheilen an Freunde drucken
lassen, bedarf keiner Versicherung. – Es ist nicht
wahrscheinlich, daß wir uns in diesem Leben noch
wiedersehen werden, aber in mancher Stunde
stiller Wehmuth u feiernder Erinnerung werde
ich an Sie denken – Ach, mir thut das Herz so weh
bei diesem Abschied! – Gott mit Ihnen! –
Fannӱ.