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Brief von Rahel Varnhagen von Ense an Caroline de la Motte Fouqué

[Berlin], 1813
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 60 Fouqué Caroline de la Motte, Bl. 50-54 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Rahel Varnhagen von Ense
Empfänger/-in
Caroline de la Motte-Fouqué
Datierung
1813
Absendeort
Berlin
Empfangsort
Umfang
5 Blätter
Abmessungen
Breite: 125 mm; Höhe: 190 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Erstdruck: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde, 2. Teil. Hrsg. von Karl August Varnhagen. Berlin: Duncker und Humblot 1833, S. 79–82

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[Karl August Varnhagen]
Ø An Fr. v. Fouqué.
Anfangsblatt fehlt
[###]
einige Tage vor Ihrer Abreise
gehöhrt: sie würden diesmal auf
längere Zeit in der Stadt bleiben
der Kriegsumstände wegen. Da
wollt’ ich’s für mich abwarten; mit
Einemmale aber waren Sie weg!
Mein Klagen Ihnen nach; wovon Sie
hier nur wenig höhren; das werden
Sie auch wohl wissen, u an diesen Worten
die hier stehen, u den besten die Ihnen
selbst oft im Herzen bleiben müßen ab-
mäßen. besonders steht mir in diesem
Augenblick nicht vor der Seele, was ich
Ihnen zu sagen hätte; aber unendlich
viel könnten wir untereander sprechen
gingen wie nur miteinander spatzieren
träfen wir uns Abends vor dem Sopha
u lebten wir die verschwendeten Wochen
neben einander! Vielleicht wird

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Friede aus der Erschöpfung des
Krieges; u ein Sommer für Menschen
daraus, nicht einer für Krieger
u Bekriegte; u vielleicht fällt
alsdann ein Tröpfchen klaaren
Segens auch auf mich, u ich kann
Sie besuchen! Sie sahen liebe fromme
Karoline, ich bin hier nicht so fromm
als Sie! Wer kann Gott nachrech-
nen! Menschen, u ihr Glück sind
Bestandtheile des Großen All’s, wa-
rum sollten sie zu einem glücklich-orga-
nischen nach der größten Zerrüttung
u Trennung sich nicht auch wieder zusammen
finden, zu neuen weiteren Beziehungen?
Wie viel aber hier untergeht, zeigen
die Begebenheiten aller Zeiten; jedes

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Menschen! Gewiß seÿn, daß ein
vielfälltigerer höherer Geist aus heil-
bringenden guten Gründen Kraft dazu
hat ist meine einzige Relligion.
Es ist mir auferlegt; muß ich denken;
ist es doch viel daß ich so viel weiß;
u Klaarheit u Verständniß in einem
höheren Wesen zu hoffen vermag.
Anfang der Gnade! vergeht uns oft
dieser Strahl, so verzweifflen wir; aber
ganz können wir nicht verzweifflen,
so wenig, als das durch unsern eigenen
Gedanken aufhöhren zu seÿn. Mögten
wir doch unser ganzes Daseÿn, als ein
Wunder annehmen; ergeben wir uns
ohne richten über den Lauf des
selben; u richten wir immer von
neuem uns selbst; unser Bestimmen.
Aber alle Buße seÿ Reinigung

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Stärkung, Feinerung, Besserung.
Reue vor der That; u fleißige Unschuld
Unschuld nach jeder. Grauelthaten
begehen nur kranke tolle, arme unglückliche, bedauerungswürdige
Menschen. Mich beugt übrigens der
Krieg sehr. Hab ich immer alle Zerstöhrung
überleben müssen, u hat mir mein mein
Herr die Einsicht in allen Jammer, u auch
die Kinderfähigkeit für alles liebliche
freudige u lebenswerthe gelassen;
so hatte ich nur noch äußere Zerstöh-
rung zu befürchten: ich erlebe sie; u
fühle es herb, ganz herb: nicht aber
was mich persöhnlich betrifft, beugt
mich ganz; aber der Beweiß daß wir
noch inmitten des Rohesten leben,
das verwundender Krieg, u tolles
Nehmen u Wehren bis zu unsern

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Schwellen, komen kann, daß wir vor
wilden nichts voraus haben; Bücher
gebildete Reden, Wohlthätiges Seÿn
àparte da liegt und nicht in unserer
großen Verfassung mit inbegriffen
steht, daß wir Alles ausgesetzt
sind, u nur prahlend uns aufmun-
tern wenn wir unsere Meinung u
Relligion über alle andern setzen
das macht mich ganz perplext u
beugt mich. Freÿlich war irgendwo
Krieg so lang’ ich lebe; dass Nahe
dringt sich Einem aber am meisten
auf; u die ganze Erde ist ja
jetzt in der Anstekung. 4 Kluge
Gedanken, kann eine ganze Nach-
kommenschaft Einmal über uns

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u unseren Zustand hervorbringen
diese Nachkommenschaft besteht dann
aus 3 oder 4 Historikern u einer
kleinen Zahl sie Fassender!
Dies ist meines Bedünkens für die
Menschengesamtheit daraus zu
erbeuten. Noch haben wir rosige
Abende! – in einem solchen laß ich
gestern Tieck’s Fantasus
. Daraus
hab ich ganz etwas Neues erfahren.
Daß man die Klügsten, ja feinsten Dinge
sagen kann u über jede Gebühr lang-
weilig dabeÿ seÿn kann. Dialogen sind
schon das Schwerste wie mich dünkt
u nur Shäkesp: Göthen, u Jean Paul,
in den Flegeljahren
, sind welche gelungen:

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Dieses vortfließende Leben, mit seiner
unendlichen voraussetzung, durch die
kleinsten aber bestimmendsten Züge
kenntlich gemacht; gelingt nur dem
lebhaftesten, gründlichsten leichtesten
Bemerker, wenn er die Gabe des
Beurtheilens während der verthei-
lung derselben in seinen Werken auf’s höchste
besitzt. Nun kommt Tieck mit roh
zusammengestoppelten Reden u gegenreden
ohne alle situation als die willkührlichsten
die mir weder Ort noch Mensch, noch
Lage zeigt; diese arme Fantas
magoren gehen in eben solchen Gegenden
spatzieren u reden mich wahrlich
todt. Der einzige Trost ist wenn man
nach Ihren allseitigen langen Behauptungen

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von denen T: selbst nicht weiß ob sie Scherz
oder Ernst seÿn sollen, u wem er
Recht giebt, Athem schöpft u sich
Gratulirt nicht auch solche geschwätzigen
Tage mit den Herren u Damen
verleben zu müßen! Ich müßte
toll werden in den Sälen, Gärten
beÿ den Wasserfällen – u Brunnen;
beÿ den leblosen Scherzen!
Hübsch ist was der Kranke
von seinen lectüren erzählt!
Jetzt
sind sie auf dem Guthe u wollen
sich vorlesen. Tieck muß fantasiren
in seiner eignen Person u komisch
u ernst seÿn dürfen. Ein Stük
Leben darff er nicht in ein Buch fassen
wie Göthe, wo das noch mit hinein geht
von welchen er nicht spricht! adieu

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Schreiben Sie mir nicht mehr „Ihre
Ergebene.“ Karoline sans
frase
ist besser. Ihre RR.
Ueber Tieck könnte ich noch lange
sprechen; aber die Feder ist müde.
1000 Grüße den Kindern. Mariens
Knäul liegt noch beÿ mir.
H: v: Fouqué hab’ ich nur als
Geist vorbeÿschweben sehen.
Vielleicht kommt auch mit dem
Frieden Muße für uns beÿde!

[Karl August Varnhagen]Frühjahr 1813.

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