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Brief von Fanny Tarnow an Rahel Varnhagen von Ense

Dresden, März 1829
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 241 Tarnow Fanny, Bl. 130-131 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Fanny Tarnow
Empfänger/-in
Rahel Varnhagen von Ense
Datierung
März 1829
Absendeort
Dresden
Empfangsort
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 130 mm; Höhe: 210 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Renata Dampc-Jarosz; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „130r“

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[Karl August Varnhagen]
Fanny Tarnow an Rahel.
Dresden, März 1829.

Dresden. Im März 29.
Seit Jahren habe ich kein Lebenszeichen von
Ihnen erhalten u Ihnen nicht geschrieben u
doch komme ich heut mit so vollem reinem
Vertrauen zu Ihnen, als hätte ich Sie erst
gestern in der vollen freundlichen Vertrau-
lichkeit einer glücklicheren Zeit gesehen
u gesprochen, weil Sie so zuversichtlich
u unveränderlich sind, wie das Wahre
u Gute selbst. Auch lege ich das einliegen-
de, nicht für das Publikum, nur für
meine Freunde bestimmte u gedruckte
Blatt in keiner Hand mir so viel Ruhe, als
in der Ihrigen. – Lassen Sie mich Ihnen den
Gang meines Schicksals in diesen letzten
Jahren nur andeuten. – Vor 4 Jahren
wurde ich von der Gicht so gelähmt, daß
ich beinahe ein Jahr lang den Gebrauch
das rechten Armes ganz verlor – nach
zweimaligem Gebrauch des Töplitzer Bades
verlor sich dies, wenn mir gleich eine
große Schwäche in der rechten Hand
zurückgeblieben ist, aber nun warf
sich die Gicht auf die Augen u ohne völlig

Seite „130v“

zu erblinden, wurde ich zu jeder Beschäf-
tigung unfähig, da ich zu schwach bin, um
mich mit Handarbeit beschäftigen zu
können. Viele Monate lang habe ich in
düsterer Dämmerung von Morgen bis zum
Abend unbeschäftigt auf meinem Sopha gelegen.
Fühlend wie ich von Tag zu Tag seelenmatter
u geistig ärmer wurde. – Im vorigen Sommer
wurde ich tödtlich krank; als ich von dem
langen Schmerzensreichen Krankenlager
erstand, fand ich sechs frische Gräber
um mich her, in denen in dem Zeitraum
weniger Wochen fast alles versunken
war, was mich, was ich auf dieser Erde
treu geliebt hatte. – Ich lebe noch, ich bin
sogar so weit genesen, daß ich täglich
eine halbe Stunde lang lesen oder schrei-
ben kann, allein Sie fühlen welche
Lebensmüdigkeit sich meiner bemächtigt
hat u nun in dieser Lage bei zerstörter
Gesundheit muß ich noch den Druck bittrer
Sorge fühlen, der so schwer auf dem Geist
lastet! – Die einzige Hofnung die ich habe
mir ein dürftiges, aber doch vor drückender
Noth u Mangel schützendes Auskommen
für die kurze, mir noch beschiedene

Seite „131r“

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Lebensfrist sichern zu können, beruht auf
dem Empfang des Unternehmens, mit dem
Sie die Einlage näher bekannt machen
wird u das ich Sie, in dem Kreise Ihrer
Bekannten, freundlich u gütig zu befördern
bitte. Das Blatt ist nicht für das Publikum
bestimmt – es würde mich unbeschreiblich
schmerzen, wenn es auf irgend einem
Wege öffentlich bekannt würde – es ist
nur als Mascrpt für Freude
gedruckt u als
solches lege ich es in Ihre liebe Hand.
Finden Sie jemand der sich für mein
Schriften u für mein trübes Geschick
hinlänglich interessiert um an dieser
Subscription Theil nehmen zu wollen,
so bitte ich Sie mir den, mit dem
Name des Unterzeichners unterschriebnen
Schein, spätestens im Maÿ dieses Jahres
zurück zu senden.
Ich darf nicht darauf rechnen Sie in diesem
Leben noch einmal wiederzusehen; allein
ich glaube fest an ein Land wo sich alle Seelen-
verwandte wieder begegnen, wieder
finden werden. Dort werde ich Sie erwarten. –
In meinem Herzen trage ich ein sehr klares
u mir unendlich liebes Bild Ihrer Hochsinnigkeit
u Ihres alle andere Frauen überflügelnden
Geistes u noch immer ist u bleibt dies liebende
freudige Erkennen fremden Werthes

Seite „131v“

meine reinste u beste Lebensfreunde.
Wird Ihr Herr Gemahl sich meiner noch
erinnern? und darf ich Sie bitten mich
ihm zurückzurufen u mich ihm hochachtungs-
voll zu empfehlen?
Es gehe Ihnen wohl, edle Frau. Mit ewiger
Hochachtung und Liebe unveränderlich.

Ihre
treue
Fannÿ Tarnow