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Brief von Karoline von Woltmann an Marie von Colomb

Prag, 8. Oktober 1819
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 281 Woltmann Karoline von, Bl. 6-8 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Karoline von Woltmann
Empfänger/-in
Marie von Colomb
Datierung
8. Oktober 1819
Absendeort
Prag
Empfangsort
Umfang
3 Blätter
Abmessungen
Breite: 190 mm; Höhe: 230 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Agnieszka Sowa; Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

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[Karl August Varnhagen]Karoline von Woltmann.
an ihre Schwester von Colomb.
Prag den 8ten 8tbr 1819
Es ist mir ein gar angenehmes Gefühl, meine liebste Marie, wenn ich am
Mittewoch Abend bei meinen gewöhnlichen Zimmerspatziergängen zwischen fünf
und sechs aus dem Fenster blicke und sehe den kleinen zweirädrigen Karrn
worin der Postilion ueber dem mächtigen Felleisen kaum Platz hat über
den Platz rollen, und denke, daß das Felleisen deinen Brief enthält. Er
kriegt gewöhnlich dann noch einen Blick, und in Erwartung der angenehmen
Stunde am folgenden Vormittag, gehe ich heitrer auf und ab. Diese Freude
ist sich ganz gleich geblieben, sie war eben so mild und heiter als Wolt-
mann
lebte und alle Freudenlichter mich umstrahlten, als sie jetzt in den
Schatten ist, die jedes Vergnügen und Werk umzogen haben. Woltmann
sagte mir öfters, es würde mir schrecklich öde in der Welt seyn, wenn
Du todt wärest! Ich freue mich, indem ich dasselbe Gefühl habe, daß es
ihm erspart ist. Er hätte nicht einmal die Beseelung durch ein Verhält-
niß schwesterlicher Freundschaft und Achtung, wie das unsre, nicht die
eines Geschäftes gehabt, das sein Leben ohne mich mit meinem vergangenen in Ver-
bindung erhielte, wie die Herausgabe seiner Werke, die Vollendung
der Jugendbibliothek das meine mit dem seinen in einer Verbindung er-
hält, die mir gar zu süß ist. Ich habe schon lange alle meine Sorgen
und Noth gesegnet, die eine so liebe Wirkung hervorgebracht haben;
und so oft das beßte Heyl, das immer darin liegt erfahren, daß ich
sie wahrlich auch schon an sich immer in den Stunden der Gegenwart
segne. Wenn ich nur die Unruhe meines Herzens dabei beherrschen kön-
te; aber diese macht mich unzufrieden mit mir selbst; daß jene Erfah-
rung ihr nicht genugsam zum Gegengewicht dient. Mutter ist so gut
daß sie mir durch Dich schreiben will, wenn sie das Geld wiederha-
[Karl August Varnhagen]Frln. v. Kalb

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ben muß; dies erleichtert mir die Möglichkeit nach Leipzig zu gehen, wozu
der ich entschlossen bin, laufen nur noch zwei Posten gehörig ein. Die
Reise wird mir 100 Gulden kosten; aber die 60 rth welche ich für die
historischen Darstellungen
erhalte bezahlen sie zum Theil. Was ich
in L. mehr als hier brauche, verdiene, erspare ich an Correcturaus-
gaben oder verdiene es durchsonstige Gelegenheiten zu litterarischen Erwerb. Ein
mal und bald muß ich die Reise machen, wegen der Jugendbiblio-
thek,
wegen einer bestimmten Verabredung über die Fortsetzung des
Drucks der Werke mit einem sicheren Mann.
Jetzt kann ich mir dadurch eine Einnahme von 200
Thaler mehr in der Ostermesse sichern, vielleicht bin höchst nöthig damit
die mehrfachen Correcturen in der böhmischen Geschichte
gut ausfallen,
auch die Aufsicht über den Druck von Graf Sternbergs Werk
zu füh-
ren, das in Leipzig gedruckt werden soll. Ungern gehe ich weg von
Prag. Ich habe es hier so gut ich es haben kann, und es ist mir immer
wie ein Unrecht wenn ich mich von Woltmanns Grab entferne, wie
eine heilige Schutzwaltung aus der ich mich wegbegäbe; aber die Ein-
sicht spricht zu laut dafür, sobald die Möglichkeit dazu vollkommen
wird, und was ich recht eingesehn und gethan habe ist noch immer gut
ausgefallen, z.B. die Wahl unsrer Wohnung vor zwei Jahren; das Annehmen
eines Kindes.
So sauer mir doch mitunter die 30 Th monath-
lich für die Kost und die kleinen Ausgaben werden, so große Freude
machen sie mir, wenn ich das Kind so vergnügt und die Alte so zu-
frieden sehe. Daß es ein lebhaft aussehendes, kräftiges Kind ist,
ist keine Frage; und um so größere Nothdurft ist ihm, bei äußerer
Schönheit dazu, eine sittliche Erziehung. Deine Warnung ist gut, daß

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ich nicht zu gut und zu böse gegen ihm seyn soll; ich bin es gegen mich
gegen Alle; aber ändre sich einer innerlich? Ich spare gewiß kei-
nen Fleiß und Gebet, dazwischen das Gleichgewicht auszumitteln, das
ich leidenschaftlich liebe, wo ohne gar keine Menschheit, keine Annähe-
rung zur Gottheit ist. Aber auf die Probe schwindet die gehoffte
Frucht zum Wahn. Mit großem Vergnügen laß ich neulich von einem
Venetianer, Contarini, der sich vom jähzornigsten Mann zum gelassen-
sten gebildet: das Beispiel stärkt durch die Ueberzeugung von der Möglich-
keit. Daß ich die Nanni fand, ist bis jetzt gewiß zum größten Heil der
Marie gewesen. Bis zum Frühjahr will ich sie ihr lassen; dann eine länd-
liche Wohnung, gar zu gern das kleine Haus, miethen, und sie zu mir
nehmen. In der Natur soll gewiß der Mensch erzogen werden, und die
Natur, die sie sehr freut, wird ihr dann die Gesellschaft der Alten, die
Spatziergänge auf der Gasse ersetzen, die ihr von da an nur zum
Nachtheil dienen können. So wie Du Dich auf das Kind freust wenn Du
kommst, rechne ich bei diesen Aussichten auf Dich immer im stillen für das
Kind. Die Astfeld
hat mich in diesen Tagen besucht: aus unserm Projekt ist
nichts geworden. Ich kann mich doch gar nicht recht mit ihr verständigen.
Sie spricht viel von ihrer Ruhe, scheint im Hause auch ruhig in ihrem Wal-
ten, und dabei kann ich den Eindruck von einer leeren Hast bei ihr
nicht los werden. Er ist Der Ausdruck derselben ist in ihren Worten,
dem Ton ihrer Sprache, in ihrer ganzen Bildung. In der Halbheit von dieser
und dem Unverhältniß ihres Verstandes zu ihrer Phantasie und ihrem Gefühl, mag wohl
der Grund liegen. Sie bekömmt dadurch etwas Geziertes. So hielt sie neu-
lich eine große Rede über den Vortheil der dabei sei, keine Kinder zu
haben, und erwähnte des Grams, wenn sie mißlingen, unglücklich sind,
die Liebe nicht erwiedern. Ich war zu faul, ihr zu widersprechen, und diese
flache Hyperempfindsamkeit eckelte mich dazu an. Aber Was ist das Alles gegen

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den Blutbund mit der Natur, welchen man durch ein solches Band knüpft?
Auf diese Weise könnte man auf einem moralischen Isolirstuhl in der Welt
ganz glückselig seyn. Gott Ehre mir die Mertens dagegen. Meine Augezderbe-
trachtungen
willst Du hören. Nun, wenn ich zurückkomme vom Anblick uns-
res weiten Thals, der leisen Feldarbeit auf dem milden Bergrücken, der
vielfachen Erdfarben, der lebendigen Baumgestalten, der Gestirne, und
trete dann in die enge Gasse, sehe rechts und links zwischen Pöbel, der
nicht einmal recht Platz hat sich zu bewegen bei seinen scheußlichen Spä-
ßen, in die kleinen Läden, das Flittergold als Glorie der Rosoliflaschen,

die Rahmbutten, Tabacksdosen, Lotteriezettel, die Talglichte, Seife, die Butten
mit Gedärmen, kurz alle Scheußlichkeit, des Gewerbes, dann die unsittlichen
bleichen, frechen, säuischen Nachkommen: so frage ich mich immer warum
das Stadtleben seyn muß? Der Fabriken wegen? Die schönsten und voll-
kommensten Farbrikate werden auf dem Lande gemacht. Der Gewerbe
wegen? Zur Nothdurft könnten sie in jedem Hauswesen getrieben wer-
den, für das höhere Bedürfniß besser fabrikenhaft, als so im
Einzelnen. Des Handels wegen? Der Handel könnte bei großen
Messen ebenso gedeihen als beim Krämerdelict, ein großer Theil der
Menschen nimmt nur auf jene Weise daran Theil. Der Gerichte wegen?
Zweidrittheil der Prozesse schwänden mit dem städtischen Beisammenseyn
wenigstens; die Polizei würde fast ganz dadurch überflüssig gemacht.
Der Studien wegen? Wer sie treibt sucht die Einsamkeit. Der Gesellschaft
wegen? Es könnte eine viel bedeutendere Geselligkeit entstehen, wenn
sie den Menschen erschwert würde. Im Kreise seines Hauses, der weniger
dem Einfluß Fremder ausgesetzt wäre, würde jeglicher das Wesen dessel-
ben bestimmter ausbilden, und sein Inneres mehr anstrengen müßen um
ihn sich selbst beseelt und belebt zu machen. Die Gastfreundschaft wür-

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[Karl August Varnhagen]z. 8 Oktober. 1819.
de wieder aufleben von Land zu Land, wenn es keine Gasthöfe, Chambre gar-
nis und Schlafstellen mehr gäbe. Der Religion wegen? Sie ließe sich insofern sie
Kultus ist, im Innern der Häuser üben; und wie es einst im Alterthum war,
bei jährlichen Zusammenkünften der Nationen auf gewißen Punkten würde
der Gottesdienst an Würde gewinnen. Wenn die Menschen ihre Wohnungen
ansiedelten, mitten in der Natur, und für die ersten Bedürfnisse auf eigne
Erzeugung verwiesen; wenn es Städte gäbe, die aber nur, wie einst Pasar-
gada
und Heliopolis und die übrigen asiatischen Städte, dem Gottesdienst,
dem Handel bei jährlichen Messen, der Volksbildung bei Spielen wie die
olympischen und istmischen, den politischen allgemeinen Beschlüssen
und einer volksthümlichen höchsten Gerechtigkeitspflege gewidmet wä-
ren; einen wie ernsteren, einfacheren und größeren Charakter würde
das menschliche Leben, mit ihm die Kunst, und das innere Wesen der Men-
schen gewinnen. Es hat ja nicht immer, nicht allenthalben Städte gege-
ben; wir Deutschen kennen sie erst seit dem 11ten Jahrhundert. Eine
gewisse Gährung der Kultur und Interessen zu bewirken, die das
menschliche Geschlecht weiter förderten haben sie gedient; mögten sie
nun sich auflösen. Daß man im Preußischen die stadtartigen Dörfer
auflöst ist das Heilsamste was für den Staat in Jahrhunderten ge-
schehen ist, sie sind ein noch scheußlicheres Verderben der Sittlichkeit, als
die Städte. Die Idee zu Blüchers Grabstätte ist sehr innig: Wenn sie nur
nicht eine so miserable gothische gekräuselte Peruckenpiramide dahin
setzen, wie bei Culm.
Ich hätte ihrer gern in Schanden gedacht bei mei-
ner Recension über Göthe, und thue es vielleicht noch. Sie ist fast fertig;
die Beschreibung der Belagerung von Malta für die Darstellungen

ebenfalls. Es ist eine Begebenheit vom höchsten Interesse, wo eine roman-
tische Standhaftigkeit in vielen Zügen hervorbricht, und den Sieg ge-

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winnt über eine unverhältnismäßiger stärkere rohe Gewalt. De Thou
hat sie mit trefflichem Ernst, aber nicht ganz folgerecht deutlich für
die Phantasie, und in einem holpernden Styl erzählt,
der ihr Eintrag
thut.
Ich bin mit seinem Material gewissenhaft frei verfahren.
Herzlichsten Dank Muttern für Ihren Brief, und herzlichste Grüße
allen, auch den Neuangekommenen.
Deine treue
K.

Wegen des Schleiers muß ich mich erst erkundigen.

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