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Brief von Helmina von Chézy an Karl August Varnhagen von Ense

München, 25. Februar 1841
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 47 Chézy Helmina von, Bl. 266-267 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Helmina von Chézy
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
25. Februar 1841
Absendeort
München
Empfangsort
Berlin
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 135 mm; Höhe: 210 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Jadwiga Kita-Huber; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „266r“

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[Karl August Varnhagen]Helmina von Chézy.
M., d. 25 Feb. 1841.
Verehrtester!

Noch immer habe ich alle Aufs. über die Acorombona
zurückgelegt,
vor Widerwillen gegen Lobsudelei nicht auslesen können, NB.
ich kriege jetzt kein Blatt zu sehn, u spreche nur von den wenigen,
die mir zugelangt, z. B. in der Allg. Augsb. Zeitung u.a. Z. Nun aber kommt
das Frühjahr, u mit einem wahren Vergnügen seh ich dort den jungen
ritterlichen Degen für Alter u Herd in das Feld ziehn. Glück auf! Eine
ähnliche Freude machte mir v. Michl der Aufsatz über Heine u Boerne.
Die Accorombona habe ich flüchtig durchlesen, sie war mir ein Schmerz, Ludwig Tieck
gehört in meinen Frühling, in mein Werden, wo er dem, was mich damahls entzückte,
befeuerte, ungleich, da muß ich trauern. So flüchtig ich las, so bin ich doch mit Ihnen
in mir selbst, in einigen Gedanken dicht zusammen getroffen. Sie waren befähigt, u
beurkunden sich durch die Citationen berufen, ja, durch Nothwendigkeit angetrieben, das Werk
von oben herab zu beleuchten. Lange habe ich nichts Neues von Tieck mehr gelesen,
da fällt mir eine flüchtige Uebersicht seiner Waldeinsamkeit
in die Hand – O Du
mein Himmel, da fällt mir die Ophelia ein, wenn sie sagt: Die Eule war eine Beckers
Tochter, der Mensch weiß wol, wer er ist, aber nicht, was er werden kann.
Jener
legt er des Zeugs dem Geisteskranken in den Mund, aber man muß jammern,
wenn diese Hand da hinein greift  –  Ich werde streben mir alles
von Ihnen zu verschaffen, aus dem, was ich kenne, bin ich Ihnen sehr gut.
Was mein eignes kleines Werkchen betrifft, so hätte ich wol für einige Einzelnheiten, so
flüchtige Pinselstriche, für die ich Liebe hatte, um Gnade gebeten, aber ich finde Sie haben
mit dem Weglassen des Meisten, besonders wie jetzt alles steht, vollkommen Recht

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und ich muß dafür danken. Was aber kann dann von mir im Piloten

stehn? Senden Sie mir ihn doch freundlich! Sollten Ihnen die
anliegenden Blätter nicht willkommen seÿn, so lassen Sie sie
an Theodor Hell
, nur unter Couvert abgehn, da er mich um
etwas ersucht, erwartet er sich etwas, u es braucht keines
Briefes dazu. Doch ich denke, es kommt recht, u bleibt bei Ihnen.
Ich bin hier noch immer angefesselt, mein jüngster Sohn, der Künstler,
ist 24 Dez. nach Augsburg wegen Bestellungen, ich wohne eine
halbe Stunde Wegs vom Theater u Centrum, leide von Rauch
u Ungemach, u habe wegen des schwierigen Transportirens eines Umzugs nach der Stadt, u in
der Hoffnung einer außergewöhnl. Einnahme, mit der ich reisen
könnte, aus der Sommerwohnung nicht ausziehn wollen. So
einsam u unbequem in dem ungewöhnlichen Hause, bei dem gräßlich
stürmischen Winter, habe ich viel ausgestanden, dreimahl wurde ich krank
vom Ungestüm des Nordosts u Schneefalls, half aber schnell durch
frisch Wasser, dies heilte mich, so daß ich alle dreimahl zwar recht krank,
aber auch jedesmahl nur einen Tag krank war. Wenn ich nur fort
wäre! Ich sehne mich nach meinen Papieren, Büchern u häuslichen Be-
quemlichkeiten im Elsaß, die jedoch alle nach Deutschland mit mir

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sollen, denn Einmahl wird’s doch Ernst mit dem Krieg, u dann könnte ich’s
drüben nicht aushalten, ohnedem war ich stets ungern in Frankreich, obwohl
ich das Volk in so vielen Hinsichten achten u lieben muß. Das innere
Frankreich aber ist mir lieber, wie jenes Gränzland, so schön es ist, die Vogesen

sind mir die liebste, entzückendste aller Gebirggegenden, die ich je kannte,
wogegen das ganz ausgesogene u ausgequetschte Volk in seiner seltnen
Erniedrigung u Demoralisirung in den Dörfern u Ortschaften den pein-
lichsten Eindruck macht. Es sind gute Menschen, aber aus allen Gleisen
heraus, können nur dafür leben, ihr Leben zu fristen, u wie! Von Verbrechen
hört man nichts, Bettelei, die widrigste, Schmutz der eingefleischtesten, wer nicht
bettelt muß hungern u frieren, alles ist theuer u schlecht, Strasburg
weiß von dem allem nichts, u ich wäre gern darin, denn es gibt liebe
Leute in Menge da, wenn es nur keine Vestung wäre, die verabscheue
ich. Uebrigens ist diesseits wolfeiler Leben, als überm Rhein in Frankreich.
Bekomme ich noch den eigenhändigen Brief, zu dem Sie einmahl
Lust bezeigten, ihn an mich zu schreiben? Sie können nicht ahnen,
wie sehr ich mich danach sehne. Ueber Ihren Aufsatz über Acorombona
kann
ich mich gar nicht zufrieden geben, ein Meisterstück, ein Meisterstreich!
Verzeihung für mein Gekritzel, die Feder ist schuld. Empfangen Sie
freundlich den Ausdruck herzlicher Bewunderung u wahrer Ergebenheit.
Helmina von Chézÿ Bleibende Adreße Arcisstraße 15.

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