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Brief von Rahel Varnhagen von Ense an Karoline von Woltmann

[Wien], [29. November 1814]
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 281 Woltmann Karoline von, Bl. 97-98 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Rahel Varnhagen von Ense
Empfänger/-in
Karoline von Woltmann
Datierung
29. November 1814
Absendeort
Wien
Empfangsort
Prag
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 120 mm; Höhe: 200 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Agnieszka Sowa; Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „97r“

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Ich habe Varnhagens Kupferstich seinen
Brief nämlich verschampfiren wollen mit meinen
Ruthen verderben wollen, aber der Stich
war zu schön. Gott grüß Sie schön rufe
ich Ihnen zu!
Aber ich möchte gerne
wissen ob nach ‚vor dem oÿeser-Thor‘
oder
nach dem dikhäusrigen edlen großar
tigen Prag. Nämlich, Wien ist nicht hübsch
soll das heißen. Eine engstraßige
Vestungsstadt, die so wenig zur Residenz
oder Capitale geschaffen ist, wie ich wollte
ich sagen, wie Leipzig brauche ich nur
zu sagen, denn mit L: hat es die spre-
-chendste Ähnlichkeit bis auf die Nasen
welche die Erker sind, die Wien fehlen.
Die vielen Laden – ausgeputzt wie die
schönsten Pariser – fehlen nicht; warum aber
die Fiaker ganz u gar beÿ uns fehlen
weiß ich nun.: sie sind alle hier: u das
zum größten Unglück, weil ihnen absolut der

Seite „97v“

Platz fehlt, nun wollen sie den erjagen;
und spielen Platz-abjagen, oder quatre
coins
, wobeÿ die armen Pferde die von
nichts wißen jedes Mal ihre Hüftchen
zu meinem größten Zittern u Schrek
Preiß geben müßen, die u ein Graf
Münster
der Man 2 Rippen, u ein armer
Jäger dem Mann 2 Beine zerfahren müßen alles
büßen. Ein Kaiserlicher Wagen wollte
auch mich den 2ten Tag als ich hier war umfahren
mein Fiakre (: der Wagen nämlich – floh in
die Höh’e that sich nichts, sondern sties
mich nur, der Kutscher schimpfte Halunke!
hatte aber eben so viel ambizion u Schuld gehabt
als der Kaiserliche . Nichts großartiges
im Äußern hat mich hier noch wie so vieles
in Prag frappirt, Ihnen werthe lauschende
Karoline würde es dagegen gar nicht gefallen.
Im Kasperle-Theater sind consomirte
Schauspieler: beÿ den Andern habe ich noch nichts
x

Seite „98r“

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durchaus bewundert. In Gesellschaft war
ich wenig, doch habe ich welche gesehen: u
unzählige Menschen. Alle Gesellschaften
in Europa die welche sind sind sich gleich
u mir lieb; d: h: egal lieb. Öffentliches
haben wir ja gar nichts: u dies ist ein
frikasirter Ersatz davon, wie das
Meiste jetzige in meinen Augen. Oder
gab es vor alten Zeiten trotz der Be-
-richte, Geschichten, Gedichte u Bewunderung
auch nichts? – ich habe starke Ahndung –
u nimmt sichs nur „gut in Liedern
aus, was die litten, die thaten?“

Schreiben kann ich gar nicht: denn ich
weiß nichts: es ist mir hier in der
ersten Unruhe vergangen. Bald komme ich
in Ruh; u ärndte ich da nur das
Mindeste so sollen Sie frische
Garben haben. Mit dem Congress gehts

Seite „98v“

wie im Dahmspiel wenn einer bis zur
Gabel gekommen ist: ziehst du so, so
zieh ich so! und ziehst du so, so zieh’
ich so! Nimst du Sachsen nehm’ ich
Pohlen; willst du Pohlen, nehm’ ich
Sachsen! So steht das Spiel so
lang ich hier bin, u auch ich kann
mir einbilden ich bin klug daraus.
Die Andern thun dies alle.
Adieu Liebe Oӱeser.
Wir sehen
uns wieder!
R.