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Brief von Karoline von Woltmann an Karl August und Rahel Varnhagen von Ense

Prag, 9. August 1818
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 281 Woltmann Karoline von, Bl. 43-44 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Karoline von Woltmann
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense Rahel Varnhagen von Ense
Datierung
9. August 1818
Absendeort
Prag
Empfangsort
Umfang
2 Blätter (Doppelblatt)
Abmessungen
Breite: 205 mm; Höhe: 255 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Agnieszka Sowa; Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

Seite „43r“

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Prag den 9ten August
1818.

Sie werden nun schon, lieben Freunde, durch Fleischer den ersten Theil der Wer-
ke
erhalten haben, und ich nehme Varnhagens Verheissung nun zur Er-
füllung in Anspruch, daß er ein öffentliches Werk, zu dem sich die Men-
ge bekennen möge, über Woltmanns Verdienst, seine Art, die sein
höchstes war, und die Sie Beide mit Wenigen kannten, sagen wolle.
Er hat vollkommen Recht in dem, was er männlich und geistvoll mir
zum Trost sagt, daß ein geistiger, inniger Antheil auch unter uns das
Musterhafte zu Wirkung und Nachahmung emporhalte; aber die Wir-
kung wird geläutert und gemehrt, wenn ein Urtheil das sein Recht
solches zu thun durch sich selbst bewährt auf die Quellen hinweist, die
das Vorbild unmittelbar abspiegeln. Und dann – ist es nicht das
Gemisch von so und so durcheinander, durchs Leben, durch erwählte Ge-
liebte und Freunde gestalteten Eigenschaften, für welches ein Mann
als Bezeichnung dient, was wir in Bild und Nachruhm erhalten mög-
ten, wenn es der Tod zerstört hat; was die Liebe begründet, die mehr
als den Glauben, die Ueberzeugung der Unsterblichkeit in die Seele
prägt, weil sie unvergänglich ist. Mag die damit verbundene
nothwendige Unvollkommenheit sehen, wie sie mit der der Vorstel-
lung des Bestehenden identificirten Vollkommenheit zurecht kommt:
ich kann das Problem nicht lösen, aber seine Lösung erfahren, wie
schon manche Erkenntniß, durch das Glück.

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Auch darin hat Varnhagen vollkommen Recht, was er über viele Ge-
bilde Woltmanns sagt, daß sie erst in der Versammlung aller ihre voll-
ständige Bedeutung ausdrücken werden; in einem Grade Recht, der Ihnen
erst beim Ueberblick der ganzen Sammlung seiner Werke wird deutlich
werden.
Es ist wirklich einzig in unsrer, vielleicht in jeder Litteratur, mit
welcher Nothwendigkeit die kleinste seiner Aeußerungen mit dem Ganzen
seiner Ansicht zusammengehört. Einzelne Hauptideen treten sogleich in
den ersten seiner Werke gleich Stammästen hervor, schießen in derselben
idealen Richtung kräftig fort, und die Verzweigung seiner vielfachen
Urtheile über fast alle Erscheinungen des Lebens seiner Zeit, über viele
der Vergangenheit, geht unmittelbar aus ihnen hervor. Diese starke
Einheit des Geistes und Charakters wird die Sammlung seiner Werke sehr
auszeichnen, und außerdem dünkt mich entspricht jener dem einer neu-
en Zeit, deren Morgenroth wir freilich nur in der Abendröthe der
untergehenden ahnden.
Die Ausbreitung unsrer politischer Theilnahme über Welttheile denen
wir hierin zum ersten Mal gleiche Rechte der Anerkennung mit dem
unsren gestatten, nähert uns die Fernen der Erde; sie trift zusammen
mit andern politischen Ereignissen andrer Art, mit physischen, mit
wissenschaftlichen Unternehmungen, welche längst den Naturkundi-
gen offenbare Kentniße zu allgemeiner Kunde geben. Den spä-
testen, aber gewiß einen sehr wesentlichen Einfluß muß von

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diesen, dächt ich die Vorstellung von dem Wechsel und Fortrücken der Klimate über
den Erdkreis hin haben, indem sie die Vorstellungen von Nebel und Erstar-
rung des Nordens, von Gluth und Fülle des Südens von den Punkten des Erdballs
trennt, die wir Norden und Süden heißen, und beide als gemeinsame Zustände
des ganzen Planeten betrachten lehrt, der Allen, dem Alle angehören, wodurch
nothwendig die Ansicht der Menschheit, als einer Gesamtheit hervorgeht und
gedeiht. Mit dieser umfassenden Ansicht hat Woltmann die Historie genommen.
Der Idee welche Herders Geschichte der Menschheit
zum Grunde liegen, daß über-
all periodenweise nach gewisser form und in gewissem Grade sich entwick-
le und bilde, was der Entwicklung fähig sei, hat er Zusammenhang und An-
wendung gegeben, welche dadurch den höchsten Werth erhalten, daß die
Nüchternheit womit er das Einzelne so scharf individuell aufzufassen ver-
mag, sie gegen den Argwohn der Schwärmerei rechtfertigt. Der noch
ungedruckte, beträchtliche Theil der Geschichte Englands
in der zweiten Lief-
rung, wird Sie in dieser Hinsicht sehr befriedigen, und aus einem hyrogly-
phenhaftem Manuscript ist in klarer Abschrift eine herrliche Biographie
Heinrich des Zweiten
hervorgegangen, die leider mit der Erscheinung und
Schilderung der Normänner schließt, deren Bild, nebst dem der Slawen,
Germanen, Italiäner jener Zeit, in ihren Wechselbeziehungen, die Eigen-
thümlichkeit der Biographie eines Kaisers bildet, der keinen bestimmten
Charakter hatte, durch den sie keinen erhalten konnte. Auch hier ist die
Kunst, wie alle wahre, nur tief verstandene Natur. Hätte sich Woltmann
so frei von den Interessen der Gegenwart erhalten können, als er
war, da er als Jüngling
diese Biographie schrieb, wäre er ein politischer

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Schriftsteller, kritischer, geworden: er hätte die Gunst seiner Zeitgenossen be-
halten, die er in ungewöhnlichem Grade früh erwarb. Der Reichthum seiner
Natur, seine Kühnheit, Treue gegen eigne Ueberzeugung verhinderten dies;
es wäre eine schöne Gerechtigkeit vom Schicksal, wenn diese edlen Eigen-
schaften, aus seinen Werken hervorgehend, nach seinem Tode ihm unmit-
telbar die Liebe und Verehrung gewännen, die er mittelbar durch sie ver-
scherzte.
Aber genug! über diesen Gegenstand finde ich immer kein Ziel. Mag das
Gesagte Ihnen beiden, theuren und geehrten Freundn, auch als Lebens-
Zeichen dienen; denn meine Tage sind einander so gleich, daß nur Gedan-
ken und Gefühle sie bezeichnen. Sie haben Beide, Einer durch den Andern,
noch Theil an Freuden und Handlungen durch das Leben, gegen das
Leben hin, schreiben Sie mir davon und von diesem. Welch ein schö-
ner, gesegneter Sommer, erquickt die leichte, warme Luft nicht Ihre Ner-
ven, liebe Rahel. Ihren Brief laß ich öfters wieder. Er ist immer neu.
Die Kraft Ihrer Seele, Ihr Geist schaffen fortwährend, wo sie längst auf-
horten willkührlich zu bilden. Sie erzeugen Gedanken, die Liebe und
Werthaltung Ihrer erhöhn.
Was Varnhagen über W. sagen mögte, wünsche ich, legte er in ein
rheinisches Blatt nieder. Für die Jenaer Litteraturzeitung getröste
ich mich eines gleichen Opfers der Einsicht und Gerechtigkeit durch Gö-
the
oder Funk. In ihr, wähnte ich, sein Feuer und seinen Geist in einer
Recension über Görres zu erkennen.
Die scheußlichen und sinnentstellenden Druckfehler im zweiten Theil
von M. und W.
verbessern Sie der Einlage gemäß; sie verderben
[Karoline von Woltmann]mir alle Freude und müßen die Wirkung des Buches lähmen. Herzlich Ihre K.