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Brief von Karoline von Woltmann an Karl August Varnhagen von Ense

Berlin, 28. Februar 1839
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 281 Woltmann Karoline von, Bl. 31-33 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Karoline von Woltmann
Empfänger/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Datierung
28. Februar 1839
Absendeort
Berlin
Empfangsort
Berlin
Umfang
3 Blätter
Abmessungen
Breite: 215 mm; Höhe: 240 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Agnieszka Sowa; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Erstdruck: Blätter für literarische Unterhaltung, 31. October 1849, Nr. 261, S. 1041.

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[Karl August Varnhagen]
Frau von Woltmann.
Berlin, den 28. Februar 1839.

Ihre gütigen Sendungen habe ich mit dem größten An-
theil gelesen. Wie viele herrliche Wahrheiten enthalten
die einzelnen Sprüche Rahels womit der Brief Brinkmanns
unterwirkt ist; und wie eigenthümlich gehaltvoll
entspringt das Verhältniß zwischen beiden. Sein
erster Moment ist, wie ein Bild des Wesens beider.
Der Ernst
für Wahrheit und Recht, das rege lebens-
starke aus sich heraustreten, leben in andern Na-
turen und deren Zuständen, die angeborene Mütter-
lichkeit des Gefühls in Rahel, tritt eben so frap-
pant auf, als Brinkmanns anspruchslose, innige
Hingebung und alles Treffliche, seine Feinheit und
Lebendigkeit des Geistes, wodurch er so liebenswür-
dig ist und, so lange gelebt hat, und hoffentlich noch leben wird.
Als ich Rahel kennen lernte sagte ich von ihr zu
Woltmann: ich sehe sie nie, ohne an den Spruch zu

denken

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denken: „da trat ich auf, Debohra, eine Mutter in Is-
rael, der Bach Kidron Kison wälzte sie, der Bach Kedumin,
tritt, meine Seele auf die Starken.“
Immer habe ich
bejammert, daß sie keine Mutter in Israel mehr seyn
konnte. Das war ihre natürliche Stellung. In einfa-
chen Nationalverhältnissen, unter einem tiefsinnigen,
scharfsinnigen, leidenschaftlichen Volke, wo der
nationelle Charakter noch dem rein menschlichen un-
tergeordnet war, unter ihrem Volke, hätte sie sich
frei und voll ausgelebt. Das Schicksal verwies
sie auf die Berliner Gesellschaft. Durch diese muß-
te sie sich eine bürgerliche Stellung machen, ihr eini-
germaßen homogen. Wie klug, kräftig, umsich-
tig und wohlwollend sie dies gethan, ohnerachtet
das Material sie oft geplagt und ennuyirt, da-
von zeugt auch Brinkmanns Brief. Sie mußte
an oft ihren reichen Geist versplittern; erst mit

Seite „32r“

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Ihnen kam sie in diesem Bestreben zur Ruhe, erst in ihren
letzten Lebensjahren; hier scheint mir ihr Wesen auch
aus ihren Briefen erst voll gesammelt hervorzugehn;
in denen Sie alle seine Strahlen und Funken vereint,
und durch, was es war überrascht, ihm allgemeine
Anerkennung und Wirksamkeit verschafft. In diesem
Sinne war meine letzte Aeußerung genommen: wer
sagt, daß Rahel nicht Rechnung mit dem Schicksal ge-
halten, begreift weder was Rahel bedeutet noch was
Schicksal. Daß man aber hundert Mal Worte aus-
spricht, deren Sinn man nur ganz begreift;
ist die Sünde der Gesellschaftlichkeit und macht sie mir
unausstehlich; das erste Conversationslexikon, müßte
ein solches seyn, welches die Bedeutung der alltäglich-
sten Worte enthielte.
Für das Geschenk des Lebens der Sophia Charlotte
sage

ich Ihnen herzlich Dank. Sie haben wirklich aus dem
Stoffe gemacht, was möglich; da ich selbst mich damit

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beschäftigt verstehe ich das um so besser. Die Kritik wird
hier Krümelleserei. Aber Sie haben, gleich im Anfang die
Onkel und Tanten so grandios und individuell aufgestellt,
daß mir der Vorf Flur des Pallastes Spinola
in Genua
einfiel, in welchem unten, die Statuen der großen Män-
ner Genuas stehn, und Einen empfangen, wie heraufdeu-
tend zur Wohnung eines Lebenden der zu ihnen gehört. –
Solche geistreiche Auffassungen sind der Kunst auch nur
möglich in Republiken! – Aus der Figur Sophie Charlot-
tens haben Sie ein lebendiges Wesen gemacht,
das mit innerer Selbständigkeit und äußerlicher
Körperlichkeit auftritt; und dazu vortrefflich, den Cha-
rakter der Mutter benutzt. Außerdem haben Sie
mit einer Discretion, wozu ich Ihnen Glück wünsche, die
Roheiten des gesellschaftlichen Treibens und gewisse
Personen behandelt; „Maske ich kenne Dich!“
sagt
nur zu Ihrem Türken der Eingeweihte und Sie haben nichts omittirt. Aus dem Theatrum
Europaeum
hatte ich eine individuelle Schilderung von
Scharlottenburg
, irre ich nicht, auch noch einen Kupfer.

Seite „33r“

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Daß ich den Mercure,
ich weiß nicht mehr, ob galant oder
de France, nicht erhalten konnte; worin der eigent-
liche Aufschluß über den Pariseraufenthalt
von mir
erwartet wurde, war mit ein Grund, weshalb ich die
Arbeit aufgab; was ich nach der Ihrigen gar nicht be-
daure.

Herzlich wünsche ich Ihnen Gesundheit; man braucht
sie um geistig zu leben, und das ist allein Leben.

Wenn auch mein Packetchen erst in sechs Wochen
nach Stockholm kommt; thut es mir sehr leid. Brin[]
manns Brief, war im Aufschluß über ein Verhäl[]
niß, worin wir beide, kurze Zeit innig gestanden,
das ich in Bezug auf ihn, nicht ganz verstanden,
das durch seine Erklärung in dieser Beziehung, eine
wahre Verklärung gewinnt; und mich durch eine
Vorstellung bereichert, die mich beglückt.

Mir ist lieb, daß wenn jener Brief auch Erneu-

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ung unsrer persönlichen Beziehungen veranlaßt. Hat
man gemeinschaftlich in inniger Beziehung zu den
ausgezeichnetesten Menschen und zu denjenigen ge-
standen welche uns die theuersten waren, sollte
man sich nicht liegen lassen und sich immer besser
zu verstehen suchen: Alles gewinnt, so näher
man es kennt; denn Alles gewinnt so besser man
es begreift; der Grund der meisten Spaltungen ist
Mangel an Verständigung oder an Verstand.

Hochachtungsvoll ergeben die Ihre

K. v. Woltmann
Berlin den 28sten
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