Brief von Fanny Tarnow an Rahel Varnhagen von Ense
Berlin, 22. Februar [o. J.] [Abschrift]
Seite „132r“
132
Berlin. d. 22te
Februar.
Februar.
Es ist schon so lange her, liebe Rahel, daß du den
Wunsch geäußert hast, einen Brief von mir
zu bekommen, daß ich fast nicht weiß, ob du
es wohl noch wünschest; auch ist mir das, was
ich dir sagen wollte schon so oft im Kopf
herumgegangen, daß es mir bei nahe vor-
kommt, als müßtest du das alles schon
längst wissen! – Laß dich übrigens durch
das: „alles“. nicht verleiten, Viel zu er-
warten – ich soll dir sagen was ich von
all den Sachen denke – wie ich von Lam-
precht denke? – ich hoffe, du weißt, wie
schwer es zu sagen ist, was man von einem
Menschen denkt – und wie viel schwerer
dies einem dummen Mädchen werden muß
die selbst nicht einmal recht weiß was
sie denkt, und manchmal auch das nicht weiß,
ach liebste Rahel, ich komme dir gewiß
nicht verrückt vor, aber siehest du, ich
kann nicht alles anders; wenn ich ein-
mal beim Schreiben bin, so muß auch alles
auf das Pappier, was so mir durch den
Kopf fährt – nimm es also nicht übel,
Wunsch geäußert hast, einen Brief von mir
zu bekommen, daß ich fast nicht weiß, ob du
es wohl noch wünschest; auch ist mir das, was
ich dir sagen wollte schon so oft im Kopf
herumgegangen, daß es mir bei nahe vor-
kommt, als müßtest du das alles schon
längst wissen! – Laß dich übrigens durch
das: „alles“. nicht verleiten, Viel zu er-
warten – ich soll dir sagen was ich von
all den Sachen denke – wie ich von Lam-
precht denke? – ich hoffe, du weißt, wie
schwer es zu sagen ist, was man von einem
Menschen denkt – und wie viel schwerer
dies einem dummen Mädchen werden muß
die selbst nicht einmal recht weiß was
sie denkt, und manchmal auch das nicht weiß,
ach liebste Rahel, ich komme dir gewiß
nicht verrückt vor, aber siehest du, ich
kann nicht alles anders; wenn ich ein-
mal beim Schreiben bin, so muß auch alles
auf das Pappier, was so mir durch den
Kopf fährt – nimm es also nicht übel,
Seite „132v“
und habe Geduld mit mir. – Ich habe die
Sachen so wie sie gekommen sind, so all-
mählich und nach und nach kommen sehen
daß mich die explansion fast garnicht über-
rascht hat; ich mußte es nach L..s. Charack-
ter vorher wissen was er thun würde;
in seiner Meinung würde eine entgegen-
gesetzte Handlungsweise, sehr nahe an Falsch-
heit, Betrug und Unredlichkeit gegränzt
haben; dies ist nun zwar die Denkart aller
Menschen, aber nicht mit dieser Kraft, mit
dieser Entschlossenheit verbunden, die ihn
vorzüglich karakterisiert, daß diese beiden
Eigenschaften zuweilen in eine zu große
Beharrlichkeit auf seine Meinungen aus-
arten, wird dich nicht wundern; ich glaube,
daß dies bei allen Menschen der Fall ist,
die einen sehr festen Willen haben;
oder irre ich mich? – siehest du Rahel,
wenn du es nicht wärest, ich würde das
alles nicht geschrieben haben; ich komme
mir so ungeheuer anmaßend vor, wenn
ich so eine Art von ernsthafter Mine
Sachen so wie sie gekommen sind, so all-
mählich und nach und nach kommen sehen
daß mich die explansion fast garnicht über-
rascht hat; ich mußte es nach L..s. Charack-
ter vorher wissen was er thun würde;
in seiner Meinung würde eine entgegen-
gesetzte Handlungsweise, sehr nahe an Falsch-
heit, Betrug und Unredlichkeit gegränzt
haben; dies ist nun zwar die Denkart aller
Menschen, aber nicht mit dieser Kraft, mit
dieser Entschlossenheit verbunden, die ihn
vorzüglich karakterisiert, daß diese beiden
Eigenschaften zuweilen in eine zu große
Beharrlichkeit auf seine Meinungen aus-
arten, wird dich nicht wundern; ich glaube,
daß dies bei allen Menschen der Fall ist,
die einen sehr festen Willen haben;
oder irre ich mich? – siehest du Rahel,
wenn du es nicht wärest, ich würde das
alles nicht geschrieben haben; ich komme
mir so ungeheuer anmaßend vor, wenn
ich so eine Art von ernsthafter Mine
Seite „133r“
133
annehmen, daß ich immer denke ich mache mich
lächerlich in Anderer Augen; sage mir
doch deinen aufrichtigen Gedanken darüber
und verschweige es mir nicht, wenn ich
irgendetwas Falsches oder Dummes sage.
Überhaupt bekümmerst du dich viel zu
wenig um mich; – hat man umsonst einen
großen Geist in der Familie? – solltest
du nicht wenigstens einige Geistchen um
dich herum bilden? – und warte nur, wenn
ich erst bei dir sein werde, ich will dir
schon Beschäftigung geben. – Aber du sollst
einmal sehen wie anders ich im Leben
als im Schreiben bin; ich begreife wie
man mich für ganz etwas Anderes halten
kann; wie ist es aber auch möglich, sich
ewig aufzuwagen – ich kann es
nicht; daher denken auch manche Leute
ich sei verschlossen; am Ende bin ich es
gar? – gestehe das wäre schrecklich; –
wenn ich komme, selbst du es nur mir
sagen. – Doch ich wollte dir noch sagen
daß ich mit Lamprecht in einem sehr
Seite „133v“
angenehmen Verhältniß stehe; wir finden
uns gegenseitig sehr liebenswürdig; und
ich lasse ihm die Freude des eigenen Denkens
was seine Hauptleidenschaft ist, streiten
aber thue ich nie mehr mit ihm; er wird
dann immer gleich so heftig, daß ich
froh bin mit einem grünlich braunen
Auge davon zu kommen; auch ist es ihm
höchst unangenehm wenn einer seiner
Freunde von etwas bedeutenden Dingen
eine andere Ansicht hat; ein Streit läßt,
nach seiner eigenen Aussage, immer ein un-
angenehmes Gefühl in ihm zurück; nichts
desto weniger behauptet er aber doch seine
Meinung mit vielem Eifer. – Mir kommt es
beinahe vor als hätte ich dir nur lauter im
Tadel von ihm gesprochen – aber ich denke:
daß er im Ganzen einer der besten ist, das
weißt du, und daß wir ihn Alle sehr lieben,
das weißt du auch, wenn es Hanne etwas wehe
thut, so hat das nichts zu bedeuten. Was schreibt
übrigens ein Herr Onkel da, von, durch eine ältere
Schwester beschattet ich werden; ich hoffe er soll erfahren
daß ein so glänzendes Licht garnicht beschattet werden
kann, man müßte es denn unter den Scheffel stellen.
Adieu. Fanny
uns gegenseitig sehr liebenswürdig; und
ich lasse ihm die Freude des eigenen Denkens
was seine Hauptleidenschaft ist, streiten
aber thue ich nie mehr mit ihm; er wird
dann immer gleich so heftig, daß ich
froh bin mit einem grünlich braunen
Auge davon zu kommen; auch ist es ihm
höchst unangenehm wenn einer seiner
Freunde von etwas bedeutenden Dingen
eine andere Ansicht hat; ein Streit läßt,
nach seiner eigenen Aussage, immer ein un-
angenehmes Gefühl in ihm zurück; nichts
desto weniger behauptet er aber doch seine
Meinung mit vielem Eifer. – Mir kommt es
beinahe vor als hätte ich dir nur lauter im
Tadel von ihm gesprochen – aber ich denke:
daß er im Ganzen einer der besten ist, das
weißt du, und daß wir ihn Alle sehr lieben,
das weißt du auch, wenn es Hanne etwas wehe
thut, so hat das nichts zu bedeuten. Was schreibt
übrigens ein Herr Onkel da, von, durch eine ältere
Schwester beschattet ich werden; ich hoffe er soll erfahren
daß ein so glänzendes Licht garnicht beschattet werden
kann, man müßte es denn unter den Scheffel stellen.