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Brief von Rahel Varnhagen von Ense an Karoline von Woltmann

[Teplitz], 17. Juli 1814
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 281 Woltmann Karoline von, Bl. 86-88 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Rahel Varnhagen von Ense
Empfänger/-in
Karoline von Woltmann
Datierung
17. Juli 1814
Absendeort
Teplitz-Schönau
Empfangsort
Prag
Umfang
3 Blätter
Abmessungen
Breite: 190 mm; Höhe: 235 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Agnieszka Sowa; XML-Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Hrsg. Karl August Varnhagen von Ense. Berlin: Dunckler und Humblot 1834, Theil 2, S. 229–234.

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Sonntag den 17 July 1814 kurz vor dem Bade 12 Uhr
Ich wollte Ihnen einen langen – ich kann keinen kurzen machen – detaillirten
Brief schreiben; der sollte so anfangen. „Ich mag Varnhagens schönes
Schreiben nicht verschampfiren
liebe Berliner; theure ojeser
Freunde,“
u so würde er fortgefloßen seÿn u Ihnen gesagt haben, wie ich hier
nicht schreiben kann: u dabeÿ erzehlt haben wie es hier ist: wie
ich es finde wie es mir geht, was ich denke, u wie ich an
Sie gedacht habe. Alles war zu diesem gewiß angenehmen,
denn er wäre treu und wahr geworden, Brief zusammen gelegt
als mich plötzlichst ein Halskrampf überfällt den ich seit 4
Wochen ungefähr kenne, aber nie in dem Grad gefühlt
habe. Es spannt sich dabey die Hals u Kopfhaut u zwingt
mich zu einem stickenden Erbrechen. Der Anfall war so stark
daß mir noch die Glieder u Beine zittern; u ich wie der größte
Narre weinen mußte, als man eben aus diken pöllern

von einem Berge hinter meinem Haus den Frieden herab schos
so angegriffen war ich Esel in dem Augenblik. Nämlich, so
wirkte das Knallen. Hier ist es göttlich liebe Kinder! und
wenn Sie irgend können Herr v: Woltmann so kommen sie hier.
Mann steht hier nichts aus von der Gesellschaft; man
kennt sie nicht; und sieht sie kaum von weitem schwindlen:
höhren Sie’s liebe Karoline? Das Thal ist schöner
als je! Vom Krieg, keine Spuhr! Außer, das mancher

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Platz ungleich ungemein verschönert ist, so, daß ich dachte
Fürst Clary habe es machen laßen; so schön haben die Truppen
von Ungefähr ausgehauen. Gestern war ich bis am
Fuße des Geierberges
, in 3 Dörfern wo der Krieg
recht eigentlich wüthete! Ja! such’ ihn ‘mal Einer!
Nicht zu finden! Nichts davon zu finden. In Maria-Schein
im Wirtshause gestand’s die Wirthin selbst, deren
Haus – ein gewesenes Kloster, eingenommen von den allirten
– eigentlich Preußen – u befestigt war – daß alles schon
wieder gut seÿ. Auch war ich in den bergischen Waldgängen
wo das eigentliche Gemetzel war; les fleurs s’en moquent.
Nüße, Hambutten
, Kornblumen; blaue, violette, weiße, alle
Sorten; Eichen, Buchen, Kamillen, u die 2000 Kreuter wühlen
wachsend, u nichts eingedenk empor: schöner, reicher, üppiger
stiller, als sonst; im goldigsten Wetter; welches auf dies
Götterthal um abwechselnd die nicht zu fassenden Gestalten
u Scheine zu verleihen herunter ströhmt. In Prag hatte
ich doch keine Herren u keine Bedienten? Hier hab ich beÿdes.
Varnh: (:hier ruft man mich mit Gewalt ins
Bad.:) (: Nun bin ich aus dem Bade; u war schon wieder gestöhrt als ich
zu schreiben angesetzt hatte. :) der 2 Tage nach mir hier ankam
hat einen Bedienten mitgebracht u da der Herr so gütig gegen mich ist,

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so ist der Diener entweder davon verführt, oder er verstellt
sich aus Furcht und Respekt, u bedient mich. Es ist ein Pariser,
u seines Handwerks ein Schneider, ein Bursch von 20
oder so viel Jahren. O! wie stellt der mir wieder die gute
Sitte des ganzen Volk’s dar! Den Besitz den es von seiner
Sprache genommen hat den ersten des Landes gleich. Kurtz das
gute von Frankreich so wie es steht und geht. Eben so
hab ich hier Staatsraths-Familien von uns gesehen,
u andere Adlige unseres Landes (: welches so sehr mit meinem
Herzen verwachsen ist, daß der Anblik des Letzten desselben
mir Thränen in den Augen pumpt :) die mich recht mit Schreck
erfüllten und stutzig machten; so sehr, u so leicht entwöhnt man
sich deren stupiden, trocknen, steifen steinernen, u doch ganz
hohlen Stolz auf die nichtigste Einbildung, beÿder sie
selbst sich in keiner Art etwas reales Denken gegründet.
Einen neuen Krieg sah ich vollkommen fertig aus denen grade
hervorbrechen. Ein Johanniter besonders mit 2 brummenden Damen,
gingen ganz wütig gestern in dem Hauptgang des Gartens

umher, blos weil sie noch nicht wußten, ob die Menschen-Rudel,
die sie da sahen, wohl Gesellschaft seÿen; d: h:, Grafe, Barone.
Nun sieht man auch sogenannte Gebildete: die sind wieder
so bieder – daß man’s schon
den Männern an den neuen rußisch-
kriegspreußischen Mützen ansieht, u die Frauen, an dem naif-
kinderhaften häußlichbürgerlichen altdeutsch Puffenreichen Anzug; denen

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die sie keinesweges vermischen, wohl aber zugleich an sich tragen.
Mit einer Haltung, die dies gerne in Ordnung halten möchte,
das Strikzeug besorgt u die tugenhafte Treue besorgt, u
doch dem Geist m so viel Spielraum läßt, die Gegend, u Neues
überhaupt in so weit in die Seele zu lassen, als eine geist-
reiche Erzehlung für die Zuhausgebliebenen erfordert, u natür-
liche gute Neugierde sucht. Die machten mich sehr herunter: u
meine Erwartung für Berlin auch. Ich kenne nicht Einen nicht
Eine davon persöhnlich; ich habe sie nur so schreidten u
sitzen sehen. Varnh: hat aber schon mit ihnen gespeißt u ge-
schnakt. Eine Breslauer Elegante ist hier die ich von Berlin
kenne, die mich sehr liebt: und die sehr schöne Eigenschaften hat.
Auch eine Equipage: mit der leb’ ich im Freӱen. Auch
sehe ich des Major Selby Frau u Schwägerin, der hier in
Garnison, ist u die ich von hier u Prag kenne; er ist ein
Däne, gebildet. Sie sind artige hübsche Blumen; die Frau
derb, voller Unschuld: schön gegen Mann und Kind: dann sprech ich
noch flüchtig mit Offizieren, sonst weiß ich von keiner lebendigen
Seele. Ich wohne sehr gut. 2 Zimmer nach einem Platz; Varnhagen
2 hinten nach dem Garten: der voller Rosen, ganz aufgeräumt
ist, u nach einem Berge führt, u nach den Schlos- u anderen
Gärten hinsieht. Den Bädern u. Fürstenhause bin ich gegenüber
welches auch einen schönen Garten der nach dem Felde geht hat.

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Wo ich gehe u stehe bequeme angenehme Spazierorte!
Dies alles für Woltman theurer, als in Prag ist hier außer
dem Quartier nichts, vieles wohlfeiler. Collonial- u andere
Waaren. Mein Kreutz schon beÿnah ganz beßer, das Beÿn
vom get gehabten Schmerz nur affiziert noch nicht. Berge
steige ich schon wie ein Tyroler. Mir half sogar ein
hoher den ich unversehens diese Woche erklimen mußte
u auch wieder herab äußerst; nämlich das Kreutz
befreÿen, alles für Sie Herr v: Woltman; damit Sie
sich die Effekte des Badens ausmahlen. Nun muß
ich zu tische. Das Essen ist recht gut u. gar nicht theuer
nur die Suppe laß ich u muß man laßen, selbst kochen.
adieu. à tantôt! (Nun nach tische; nach Schlaf u einem Besuch. #
Kommen Sie denn nicht hierher? Ich möchte Sie gar gerne bereden.
Es ist zu herrlich hier, u die Quelle zu gesund. Nur das quartier
u die Reisekosten brauchten Sie bedenken berechnen Sie’s! Varnhagen
hatte Ihnen schon vorige Woche, in dem selben Sinne einen Brief geschrieben
u ihn cassirt weil er glaubte es seÿ zu arrogant; ich redete es ihm aus;
u miteinemmale hatte er wieder diesen Brief geschrieben, der nun mit
meinem, oder meiner mit seinem, abgeht. Nehmen Sie unsere anhäng-
liche Gesinnung, aus der besten Meinung erwachsen, u also auch
voller Zuversicht gut auf. Und gebe der Lenker der Umstände
daß unsere Wünsche für Sie in Erfüllung gehen. Es geschehe aber
wie da wolle, so wollen wir nicht aufhören ununterbrochen bemüth
#von meiner Elleganten

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zu seÿn das Beste an u für die Besten zu fördern. Seÿ auch der Kaos
der Welt wirklich so groß als er mir scheint, oder schon
eine gebildete Epoche; diese gute Bemühung können u müßen
sie nur weiter fördern, u darin kann auch der unbe-
deutenste, die formloseste Person helfen; drum will ich
es mir nicht entgehen, u das Gegentheil zu Schulden kommen laßen
beÿ Ihnen nun gar, wo es nichts, als der Ausdruck, das
Wirken, des leidenschaftlichsten Wohlwollens ist; im Einklang
der beßten Meinung von Ihnen; u eine wahre Bewunderung
für Karolinens l unschuldige Tugenden, die sie gar nicht
kennt! Leben Sie recht wohl! Antworten Sie mir bald.
Im Goldenen Löwen; u laßen Sie mich wißen wie sich Wolt:
befindet, u ob, u daß Sie kommen. Rahel Robert.