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Brief von Karl August Varnhagen von Ense an Helmina von Chézy

Berlin, 18. November 1835
Biblioteka Jagiellońska Kraków | SV 47 Chézy Helmina von, Bl. 731-732 XML-Datei downloaden
Absender/-in
Karl August Varnhagen von Ense
Empfänger/-in
Helmina von Chézy
Datierung
18. November 1835.
Absendeort
Berlin
Empfangsort
Umfang
2 Blätter
Abmessungen
Breite: 1135 mm; Höhe: 225 mm
Foliierung
Foliierung in Bleistift durch die Biblioteka Jagiellońska Kraków.
Herausgeber/-innen
Jadwiga Kita-Huber; Jörg Paulus
Bearbeiter/-innen
Quellenrecherche, Transkription, Auszeichnung nach TEI P5 und Annotation durch Jadwiga Kita-Huber; Korrektur durch Simona Noreik
Bibliographie
Ludwig Stern: Die Varnhagen von Ensesche Sammlung in der Königlichen Bibliothek zu Berlin. Berlin: Behrend & Co. 1911.

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[Karl August Varnhagen]An Helmina von Chézy.
18. November 1835.

Zum zweitenmale binnen sehr kurzer Zeit werde ich
von Ihnen, sehr verehrte Frau, freudigst überrascht, erst
durch Ihren herrlichen Aufsatz
, und jetzt durch Ihren lieben
Brief! Hätte ich indeß gewußt, wo ich sie finden könnte;
so würde Ihrem Brief einer von mir zuvorgekommen sein.
Sie haben durch Ihre zarte, liebevolle Auffassung mein
innerstes Herz berührt, und dies Ihnen dafür die wärmsten
Dankempfindungen gewidmet. Alles Innere, das sie aus-
sprechen, ist von eignem Seelenleben durchdrungen, Sie reden
wie eine edle Gefährtin der Schmerzen und Schicksale, welche
allem Ausgezeichneten beschieden sind, und deshalb mit
freier Einsicht und ächter Würdigung. So ist das Bild, welches
Sie geben, doppelt wahr, als das des Gegenstandes, und als
von Ihnen Gegebenes; dagegen verschwinden einige ungenaue
Äußerlichkeiten in Schatten. Daß Ihre Schilderung Ein-
druck gemacht hat, ist wohl sehr begreiflich; mit feiner und
geschickter Hand haben Sie grade die Saiten berührt, wel-
che dort am reinsten und kräftigsten klingen. Und der
Zauber eines liebevollen Herzens, wie sie in diesem Auf-
satze es zeigen, kann auch seines Eindrucks nicht verfehlen! Ich
selbst habe all die frische Innigkeit empfunden, die sonst
Ihre lyrischen Blüthen beseelte, an denen wir uns so oft
erfreuten. Ich weiß nicht, ob Sie noch dichten, ich habe lange
nichts von Ihnen gesehen; aber das Herz dazu haben Sie noch! – 
Das Heft
kam mir hier durch einen Freund
zu Gesicht; ich
habe mir dann ein paar Abdrücke durch den Buchhändler
kommen lassen. Nochmals Dank, innigsten Dank! – 
Ihre freundlichen Erinnerungen und Verheißungen in
Betreff des Knebel’schen Nachlasses habe ich sogleich meinem
Mitherausgeber
nach Leipzig mitgetheilt, der eigentlich allein
die ganze Herausgabe besorgt; mein Name steht nur mit auf
dem Titel, weil der Hr Minister von Altenstein es wünschte.
Aber senden Sie ja bald das verkündigte Gedicht
, denn der
Druck schreitet, wie ich höre, rasch vor. Finden sich Briefe von
Ihnen vor, so sind solche dem Hrn Dr. Mundt bestens empfohl-

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len. Indeß sind ihm nicht alle Papiere überliefert
worden; man hat in Weimar viel zurückbehalten, schon
alle Briefe von Goethe. Ich habe, wie gesagt, an der Ar-
beit gar keinen Theil, desto mehr aber an dem Verdrusse,
der sich mit solchen Gegenständen immer verknüpft!
An Hitzig und Chamisso werde ich Ihren freundlichen
Gruß nächstens gelangen lassen. Ich sehe beide nicht oft,
die Ferne und Kränklichkeit trennen uns. Hitzig sah ich doch
vor kurzem, wohlauf und munter, seine gewünschte Muße
wird immer noch voll ersprießlicher Thätigkeit sein. Chamisso
aber macht mir tiefen Gram; er hat seit länger als einem
Jahr ein unheilbares Lungenübel, bei dem er noch ziemlich
kräftig ist, auch noch viele Jahre leben kann, – vielleicht
aber auch nicht, und seine Hustenanfälle sind entsetzlich! Er
ist sehr gebeugt, da er gewohnt war, so gesund zu sein. Doch
nimmt er noch an allem lebhaft Antheil. Daß wir Neumann

voriges Jahr verloren, war auch ein harter Schlag. Wahrhaftig,
die Welt wird eine andre, wenn man die alten Freunde ver-
schwinden sieht! Seit ich in Rahel alles verloren, was mir
Licht und Festigkeit gab, find’ ich für nichts mehr die alte
Bedeutung wieder. – 
Ich bin seit einem Jahre fast immer leidend, oft krank,
und sehr oft in aller Thätigkeit gehemmt. Vorigen Sommer
war ich einige Wochen in Wien, und wollte nach Italien
reisen, kehrte aber um, und hielt mich seitdem ganz eingezogen
daheim. Sind Sie gesund und muthig, so wünsch’ ich Ihnen
zu Ihrem Wanderleben Glück; unter jenen Bedingungen
kann es sehr hübsch sein. Ich habe die Lust verloren; und bin
schon zufrieden, hier am Boden zu haften, wiewohl er wenig
giebt. Könnte ich immer arbeiten, so wäre das noch das Beste! – 
Den schönsten Dank für den lieben Gruß aus Paris, und
die herzlichste Erwiederung! Sagen Sie dem Freunde der
schönen Fürstin
(Heine) gütigst, daß in meinen Gesinnungen nichts ver-
ändert ist, daß ich ihn kenne und schätze aus dem Innersten
heraus, und daß ich mich durch nichts irren lasse. Hätte ich das
nicht aus Eignem, so würde ich es von Rahel gelernt haben.
Jemehr man den Menschen als solchen zum Augenmerk hat,

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desto mehr werden die Umstände der Erscheinung unbedeu-
tend. Möge er es auch so mit mir halten, und meiner stets
versichert bleiben! – 
Wo sind denn Ihre lieben Söhne, theuerste Frau? Ich
sehe, daß die schönen vererbten Anlagen und Gaben sich noch
immer weitervererben! Leben Sie denn zusammen? Das ist
ein großer Trost, mit den Seinen zu leben; den ich jetzt völlig
entbehren muß!
Leben Sie wohl, Verehrteste! Und sein Sie gewiß, daß
Sie mich sehr erfreut, mir wahrhaft wohlgethan haben, durch
Ihre unverhoffte Zuschrift wie durch den schönen Aufsatz
.
Ein ganzes Meer früherer Lebensbilder wogt in mir auf
und nieder; das Gute und Liebliche soll darin nicht untergehen,
sondern durch treues Andenken nur geläutert werden!
Mit innigster Hochachtung und Ergebenheit unwandelbar
Ihr
Varnhagen von Ense.
Berlin, der 18. November
1835.
Mauerstraße 36.
Es bedarf aber gar
keiner Bezeichnung. Mein
Name und Berlin genügt.

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